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„Wir sind alle Hirten“
Giuseppe Ferrigno sitzt im Eingang seines Ladens in der Via San Gregorio Armeno 28. Vor ihm auf der Holzplatte liegt ein dunkelgrauer Lehmbatzen. In der rechten Hand hat er ein spitzes Bastelmesser, das auf den ersten Blick eher einem Bleistift gleicht. Und bis Giuseppe erzählt hat, dass er wirklich gebürtiger Neapolitaner ist, seine Krippenwerkstatt ein Familienbetrieb und es auch immer bleiben wird, er in der fünften Generation hier lebt und arbeitet und sein Sohn Marco, der zwei Meter weiter am Telefon den nächsten Auftrag annimmt, nach ihm seine Passion weiter führen wird und will, ist aus dem unansehnlichen, unförmigen Lehmklumpen unter seinen Händen ein Esel geworden. In nur wenigen Minuten. Aber schließlich hat er auch sein Leben lang modelliert. Und den Betrieb gibt es seit 1836.
Die Krippen gehören zu Neapel wie der Vesuv“, erzählt eine Malerin am oberen Ende der Via San Gregorio. Den Weihnachtsbaum finden die Neapolitaner weniger schön, schließlich ist er ja nur Schmuck. Erst in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat er Einzug gehalten in die süditalienischen Wohnhäuser. Die Krippe aber erzählt die ganze Weihnachtsgeschichte. Sie ist quasi – eines der Lieblingswörter der Italiener – selbst Weihnachten. Dieser felsenfeste Glaube sprüht zumindest aus den Augen eines Verkäufers. Und natürlich ist die Krippe keineswegs nur zum Anschauen gedacht, sagt er, sondern in aller erster Linie zum Spielen. Vielleicht nicht nur für Kinder. Aber gerade die Kinder sollen schließlich verstehen, was Weihnachten wirklich ist.
Kern jeder Krippe ist die Heilige Familie, dazu noch ein Hirte und mindestens ein Engel. Aber was den Zauber von Neapels Krippen ausmacht, das sind die „Typen“, die Männer mit Knollennase, die Frauen mit Lachfalten um die Augen, die pausbäckigen Kinder. Sie kommen frisch vom Fischfang, zerlegen auf dem Markt den Schwertfisch, bleichen die Wäsche, beugen sich für einen Plausch mit der Nachbarin übers Balkongeländer, schüren Feuer oder holen die Pizza aus dem Holzofen. Es sind die Menschen dieser Stadt und dieses Landes, die Neapels Krippen so besonders machen. Sie erzählen nicht nur eine Geschichte, die vor 2000 Jahren passiert ist, sondern sie erzählen vom Alltag der Neapolitaner. Und die ziehen genauso zur Krippe, wie die Hirten und die Könige. Wie sagte noch der Verkäufer? „Wir sind doch alle Hirten.“ Bis zum 16. Jahrhundert waren Krippen nur in Klöstern zu finden, eine Tradition, die auf Franziskus von Assisi zurückgeht. Er setzte 1223 in Greccio zum ersten Mal das Weihnachtsevangelium szenisch um – mit Erlaubnis des Papstes. Ab dem 16. und 17. Jahrhundert waren Krippen dann die Christtagsfreude der Adelsfamilien, lebensnahe Puppenhäuser für die Kinder. Sie zeigten, wie der Adel sich das Leben des einfachen Volkes vorstellte. Die prachtvollen und farbenfrohen Landschaften unter den Kronleuchtern an den Höfen entsprachen dabei wohl nicht immer der kargen Realität. Dafür stand für den ein oder anderen Charakterkopf der Krippenfiguren eine reale Figur des Zeitgeschehens Pate. Zwischen den einzelnen Adelsfamilien entstand – wenn man den schriftlich wie mündlich überlieferten Stadtchroniken glauben darf – ein regelrechter Wettbewerb um die prächtigsten und originellsten Krippen. Manche Familie soll gar an ihrer Sammelleidenschaft verarmt sein. Ganz wichtig nicht nur die Figuren, sondern auch die Landschaften: Antik anmutende Tempel, Bauernhäuser, oder barocke Stadtviertel. Oft maßstabsgetreu nachgebildet. Keinesfalls fehlen darf der Vesuv. „Unnachahmlich“ schwärmte schon Goethe in seiner Italienischen Reise.
Die Lieblingsfigur vieler Neapolitaner ist bis heute der Bennino. Ein schlafender Hirte, der sein Bündel als Kopfkissen benutzt und zusammengekauert im Gras liegt. „Er schläft und träumt dabei vom Jesuskind“, sagen die einen. „Ja, er schläft, aber nur solange, bis der Ruf der Engel ihn weckt“, sagen die anderen. Und dann wird er der erste an der Krippe sein. Zwei Häuser neben dem Arbeitsplatz von Meister Ferrigno dekoriert dessen Ehefrau liebevoll singende Engel über Heiligen Familien und all die Figuren, die sie vorher angekleidet hat, für die sie die Kleider von Hand selbst genäht hat, an denen sie jede Falte in der Seide selbst gelegt hat. Liebevoll hält sie die Maria im Arm – fast wie einen Säugling – und schenkt ihr noch einen zärtlichen Blick, bevor sie das Kunstwerk in die Vitrine stellt. Von alters her haben sie Köpfe, Hände und Füße aus Terrakotta, als Körper ein Holzgestell und kleine Glaskristalle als Augen. Die Kleider sind aus Seide aus San Leucio. Signora Ferrigno hat diese edlen Stoffe jetzt seit 40 Jahren in den Händen. Das Handwerk hat sie erst als junge Frau gelernt, nicht schon als kleines Kind, wie ihr Mann. „Leider“, sagt sie. „Aber ich hatte ja keine Chance, keine andere Wahl. Schließlich wollte ich diesen Mann heiraten.“ Und inzwischen sei es, als „wenn ich meine eigenen Kinder anziehe“. Die Via San Gregorio Armeno war und ist eine von diesen vielen, typischen, engen Straßen in Neapels Zentrum. Unten in den Häusern kleine Geschäfte und Werkräume, in den Stockwerken darüber Wohnungen. Und über der Gasse weht die Wäsche im Wind. „Mein Mann hat das erste große Krippengeschäft eröffnet. Er hat diese Straße erst aufgebaut.“, sagt Signora Ferrigno stolz. Zwei Straßen sind es heute in der Altstadt Neapels, die von den Krippen leben. Die Via San Gregorio und die angrenzende Via Tribunali.
Eine steile Treppe führt ins Stockwerk über Signora Ferrignos Reich. Hier steht originale Handwerkskunst aus dem 21. Jahrhundert. Ferrigno hat die Werke und Schätze der aktuellen Produktion hier aufgebaut. So, wie sie später zu Hause im Wohnzimmer oder vielleicht in einer Kirche stehen. 55 Zentimeter hoch sind die Prachtfiguren. Da stehen sie, die Könige in Goldbrokat, die fette Gemüsehändlerin, der Tamburinverkäufer. Don Antonio schwenkt ein echt silbernes Weihrauchfass, der Winzer sitzt auf seinem Weinfass und setzt gerade die nächste Flasche an den Mund, und Pulcinella, der Hofnarr der Neapolitaner setzt zum nächsten Spottlied auf der Mandoline an. Es sind die Meisterwerke aus Neapels Krippenkunst. Bis zu 300 Euro kostet so ein Liebhaberstück.
Ganz hinten, im Nebenraum, sitzen die Neffen an einem kleinen alten, unlackierten Holztisch. Der ist über und über voll mit halb fertigen Figuren und Farben in Marmeladengläsern. Hochkonzentriert arbeiten die beiden, einen Pinsel in der Hand, den andern zwischen den Zähnen. Ihr Werk sind die kleineren, aber dafür nicht weniger kunstvollen Figuren. Zwischen zwei und fünf Zentimeter groß sind die kleinsten, es gibt sie auch mit acht, zehn, 15, 18 oder 25 Zentimeter Höhe. Maßarbeit. Links oben in der Ecke der Kammer flimmert ein Fernseher. Die Sportnachrichten sind die Begleitmusik, keine Weihnachtslieder. Die Krippen der neapolitanischen Familien wachsen jedes Jahr ein Stück. Hier ein neuer Brunnen, dort ein neuer Topf für die Küche, gusseisern natürlich, ein neuer Hirte oder gar ein Popstar, Politiker oder Sportler, mit Vorliebe ein Fußballer. Neueste Kreationen in diesem Jahr: der Popmusiker Al Bano und Loredana Lecciso, die neue Flamme an seiner Seite. Giuseppe Ferrigno hat natürlich auch diese „Typen“ im Angebot. Von Fußballstar Maradona, Mutter Teresa oder Papst Johannes Paul II. ganz zu schweigen. Aber, Ferrigno räumt jeden Zweifel aus: „In unsere traditionellen Krippen gehören die nicht.“ Sie gefallen ihm nicht, die neuen Gesichter. Diese Tradition macht er „nur für die Medien. Wenn Maradona oder Berlusconi im Fenster stehen, kommen die Kamerateams und dann auch die Kunden.“ Doch denen verkauft der Krippenbauer dann lieber ein Stück alte Handwerkskunst. Stolz zeigt er auf die Fotografien im Türrahmen: Seine Krippen stehen in Tokio, in New York, in Australien, „überall auf der Welt“, sagt er. Dass Süditaliener gerne mal ein klein wenig übertreiben, vergisst man fast, oder verzeiht es ihm zumindest.
Ab 8. Dezember wachsen die Krippenlandschaften in den Wohnzimmern, in den Kirchen und auf den Plätzen in Italiens Süden. Aber ein Platz bleibt leer. Bis nach der Weihnachtsmette in der Nacht zum 25. Dezember. Erst dann darf nach altem Brauch das Christkind ins Stroh gelegt werden.
Die Krippen gehören zu Neapel wie der Vesuv“, erzählt eine Malerin am oberen Ende der Via San Gregorio. Den Weihnachtsbaum finden die Neapolitaner weniger schön, schließlich ist er ja nur Schmuck. Erst in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat er Einzug gehalten in die süditalienischen Wohnhäuser. Die Krippe aber erzählt die ganze Weihnachtsgeschichte. Sie ist quasi – eines der Lieblingswörter der Italiener – selbst Weihnachten. Dieser felsenfeste Glaube sprüht zumindest aus den Augen eines Verkäufers. Und natürlich ist die Krippe keineswegs nur zum Anschauen gedacht, sagt er, sondern in aller erster Linie zum Spielen. Vielleicht nicht nur für Kinder. Aber gerade die Kinder sollen schließlich verstehen, was Weihnachten wirklich ist.
Kern jeder Krippe ist die Heilige Familie, dazu noch ein Hirte und mindestens ein Engel. Aber was den Zauber von Neapels Krippen ausmacht, das sind die „Typen“, die Männer mit Knollennase, die Frauen mit Lachfalten um die Augen, die pausbäckigen Kinder. Sie kommen frisch vom Fischfang, zerlegen auf dem Markt den Schwertfisch, bleichen die Wäsche, beugen sich für einen Plausch mit der Nachbarin übers Balkongeländer, schüren Feuer oder holen die Pizza aus dem Holzofen. Es sind die Menschen dieser Stadt und dieses Landes, die Neapels Krippen so besonders machen. Sie erzählen nicht nur eine Geschichte, die vor 2000 Jahren passiert ist, sondern sie erzählen vom Alltag der Neapolitaner. Und die ziehen genauso zur Krippe, wie die Hirten und die Könige. Wie sagte noch der Verkäufer? „Wir sind doch alle Hirten.“ Bis zum 16. Jahrhundert waren Krippen nur in Klöstern zu finden, eine Tradition, die auf Franziskus von Assisi zurückgeht. Er setzte 1223 in Greccio zum ersten Mal das Weihnachtsevangelium szenisch um – mit Erlaubnis des Papstes. Ab dem 16. und 17. Jahrhundert waren Krippen dann die Christtagsfreude der Adelsfamilien, lebensnahe Puppenhäuser für die Kinder. Sie zeigten, wie der Adel sich das Leben des einfachen Volkes vorstellte. Die prachtvollen und farbenfrohen Landschaften unter den Kronleuchtern an den Höfen entsprachen dabei wohl nicht immer der kargen Realität. Dafür stand für den ein oder anderen Charakterkopf der Krippenfiguren eine reale Figur des Zeitgeschehens Pate. Zwischen den einzelnen Adelsfamilien entstand – wenn man den schriftlich wie mündlich überlieferten Stadtchroniken glauben darf – ein regelrechter Wettbewerb um die prächtigsten und originellsten Krippen. Manche Familie soll gar an ihrer Sammelleidenschaft verarmt sein. Ganz wichtig nicht nur die Figuren, sondern auch die Landschaften: Antik anmutende Tempel, Bauernhäuser, oder barocke Stadtviertel. Oft maßstabsgetreu nachgebildet. Keinesfalls fehlen darf der Vesuv. „Unnachahmlich“ schwärmte schon Goethe in seiner Italienischen Reise.
Die Lieblingsfigur vieler Neapolitaner ist bis heute der Bennino. Ein schlafender Hirte, der sein Bündel als Kopfkissen benutzt und zusammengekauert im Gras liegt. „Er schläft und träumt dabei vom Jesuskind“, sagen die einen. „Ja, er schläft, aber nur solange, bis der Ruf der Engel ihn weckt“, sagen die anderen. Und dann wird er der erste an der Krippe sein. Zwei Häuser neben dem Arbeitsplatz von Meister Ferrigno dekoriert dessen Ehefrau liebevoll singende Engel über Heiligen Familien und all die Figuren, die sie vorher angekleidet hat, für die sie die Kleider von Hand selbst genäht hat, an denen sie jede Falte in der Seide selbst gelegt hat. Liebevoll hält sie die Maria im Arm – fast wie einen Säugling – und schenkt ihr noch einen zärtlichen Blick, bevor sie das Kunstwerk in die Vitrine stellt. Von alters her haben sie Köpfe, Hände und Füße aus Terrakotta, als Körper ein Holzgestell und kleine Glaskristalle als Augen. Die Kleider sind aus Seide aus San Leucio. Signora Ferrigno hat diese edlen Stoffe jetzt seit 40 Jahren in den Händen. Das Handwerk hat sie erst als junge Frau gelernt, nicht schon als kleines Kind, wie ihr Mann. „Leider“, sagt sie. „Aber ich hatte ja keine Chance, keine andere Wahl. Schließlich wollte ich diesen Mann heiraten.“ Und inzwischen sei es, als „wenn ich meine eigenen Kinder anziehe“. Die Via San Gregorio Armeno war und ist eine von diesen vielen, typischen, engen Straßen in Neapels Zentrum. Unten in den Häusern kleine Geschäfte und Werkräume, in den Stockwerken darüber Wohnungen. Und über der Gasse weht die Wäsche im Wind. „Mein Mann hat das erste große Krippengeschäft eröffnet. Er hat diese Straße erst aufgebaut.“, sagt Signora Ferrigno stolz. Zwei Straßen sind es heute in der Altstadt Neapels, die von den Krippen leben. Die Via San Gregorio und die angrenzende Via Tribunali.
Eine steile Treppe führt ins Stockwerk über Signora Ferrignos Reich. Hier steht originale Handwerkskunst aus dem 21. Jahrhundert. Ferrigno hat die Werke und Schätze der aktuellen Produktion hier aufgebaut. So, wie sie später zu Hause im Wohnzimmer oder vielleicht in einer Kirche stehen. 55 Zentimeter hoch sind die Prachtfiguren. Da stehen sie, die Könige in Goldbrokat, die fette Gemüsehändlerin, der Tamburinverkäufer. Don Antonio schwenkt ein echt silbernes Weihrauchfass, der Winzer sitzt auf seinem Weinfass und setzt gerade die nächste Flasche an den Mund, und Pulcinella, der Hofnarr der Neapolitaner setzt zum nächsten Spottlied auf der Mandoline an. Es sind die Meisterwerke aus Neapels Krippenkunst. Bis zu 300 Euro kostet so ein Liebhaberstück.
Ganz hinten, im Nebenraum, sitzen die Neffen an einem kleinen alten, unlackierten Holztisch. Der ist über und über voll mit halb fertigen Figuren und Farben in Marmeladengläsern. Hochkonzentriert arbeiten die beiden, einen Pinsel in der Hand, den andern zwischen den Zähnen. Ihr Werk sind die kleineren, aber dafür nicht weniger kunstvollen Figuren. Zwischen zwei und fünf Zentimeter groß sind die kleinsten, es gibt sie auch mit acht, zehn, 15, 18 oder 25 Zentimeter Höhe. Maßarbeit. Links oben in der Ecke der Kammer flimmert ein Fernseher. Die Sportnachrichten sind die Begleitmusik, keine Weihnachtslieder. Die Krippen der neapolitanischen Familien wachsen jedes Jahr ein Stück. Hier ein neuer Brunnen, dort ein neuer Topf für die Küche, gusseisern natürlich, ein neuer Hirte oder gar ein Popstar, Politiker oder Sportler, mit Vorliebe ein Fußballer. Neueste Kreationen in diesem Jahr: der Popmusiker Al Bano und Loredana Lecciso, die neue Flamme an seiner Seite. Giuseppe Ferrigno hat natürlich auch diese „Typen“ im Angebot. Von Fußballstar Maradona, Mutter Teresa oder Papst Johannes Paul II. ganz zu schweigen. Aber, Ferrigno räumt jeden Zweifel aus: „In unsere traditionellen Krippen gehören die nicht.“ Sie gefallen ihm nicht, die neuen Gesichter. Diese Tradition macht er „nur für die Medien. Wenn Maradona oder Berlusconi im Fenster stehen, kommen die Kamerateams und dann auch die Kunden.“ Doch denen verkauft der Krippenbauer dann lieber ein Stück alte Handwerkskunst. Stolz zeigt er auf die Fotografien im Türrahmen: Seine Krippen stehen in Tokio, in New York, in Australien, „überall auf der Welt“, sagt er. Dass Süditaliener gerne mal ein klein wenig übertreiben, vergisst man fast, oder verzeiht es ihm zumindest.
Ab 8. Dezember wachsen die Krippenlandschaften in den Wohnzimmern, in den Kirchen und auf den Plätzen in Italiens Süden. Aber ein Platz bleibt leer. Bis nach der Weihnachtsmette in der Nacht zum 25. Dezember. Erst dann darf nach altem Brauch das Christkind ins Stroh gelegt werden.