Wie sehr sind Sie beide Gerechtigkeitsfanatiker?
Thomas Schwartz: Für die katholische Kirche ist Gerechtigkeit der Stachel im Fleisch unseres Daseins. Wir können nie gerecht genug sein. Wenn wir meinen, wir wären gerecht genug, sind wir es gerade nicht. Der Mensch fragt stets nach Gerechtigkeit – die Natur nicht. Deswegen ist ein Naturwissenschaftler eigentlich ein Ungerechtigkeitsfanatiker, meine ich.
Harald Lesch (lacht): Das ist eine Frechheit. Wir sind gute Freunde, aber immer wieder muss er mir einen mitgeben. Aber – ich sage es nicht gerne – Thomas hat Recht: In der Natur ist Gerechtigkeit nicht zu finden. Die Naturwissenschaften beschreiben etwas, wie es ist. Die Gerechtigkeit fragt: Wie soll es sein? Gerechtigkeit ist ein Begriff, den es ohne uns Menschen überhaupt nicht geben würde. Er hat etwas mit Balance zu tun und mit gleichen Belastungen.
Schwartz: In jedem Fall mit einem Ausgleich: Ausgleich von Interessen, Ausgleich von Ungleichheiten. Ungleichheit kann zu Not und Leid führen und in Unterdrückung und Gewalt münden. Gerade deshalb ist dieser Ausgleich für Gerechtigkeitsfanatiker wie mich oder Harald eine tagtägliche Aufgabe.
Spielt für Sie Gerechtigkeit aus wissenschaftlicher Sicht denn eine Rolle?
Lesch: Ja, wenn es darum geht, welche Folgen die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse haben. Aber in der Tat wird bei diesem Thema der Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften ganz offensichtlich. Bei allem, was mit Menschen zu tun hat, sind Begriffe wie gerecht und ungerecht angebracht. Die natürlichen Prozesse, die haben sich schon abgespielt, lange bevor wir den Begriff überhaupt in unser Denken hineingebracht haben. Um es hart zu sagen: In der Wissen- schaft ist Gerechtigkeit keine Messgröße.
Und weniger hart?
Lesch: Natürlich sind Wissenschaftler an Gerechtigkeitsfragen interessiert. Denn Gerechtigkeit macht es überhaupt erst möglich, Wissenschaft zu betreiben. In ungerechten und somit instabilen Gesellschaften funktioniert das nicht. Ein Beispiel: Je gerechter es am Tisch zugeht, je häufiger also alle mal gewinnen, desto länger dauert das Spiel. Wenn nur einer gewinnt, ist das Spiel relativ schnell zu Ende. Das muss man manchen Leuten auf diesem Planeten immer und immer wieder unter die Nase reiben.
Ein Punkt, an dem Naturwissenschaft, Glaube und Moral in der Frage der Gerechtigkeit zusammentreffen, ist die Klimakrise.
Lesch: Ohne auf die Moral zurückzugreifen, kann man zunächst festhalten: Wenn wir so weitermachen wie bisher, laufen wir auf eine Welt zu, die deutlich wärmer wird. Da landen wir bei 3,2 Grad. Und dann sind wir alle weg vom Fenster. In einer 3,2 Grad wärmeren Welt sind große Teile von Südamerika, Asien und Afrika schon nicht mehr bewohnbar. Auch in Europa wird es erhebliche Opferzahlen geben, weil unser Stoffwechsel eine so viel größere Hitze nicht mitmacht.
Und doch geht es bei der Klimakrise auch um Gerechtigkeit.
Lesch: Angesichts der Menge an wissenschaftlichen Informationen, die wir zusammengetragen haben, stellt sich die Frage der Verantwortung: Was machen wir mit unserem Wissen? Da taucht automatisch die Gerechtigkeitsfrage auf: Welche Welt hinterlassen wir den nächsten Generationen? Was für eine erbärmliche Generation sind wir, dass wir die Wende nicht geschafft haben – obwohl wir das volle ökologische Know-How hatten? Wie können wir jetzt den Turnaround wenigstens noch vorbereiten, damit die nächste Generation ihn vollzieht?
Haben Sie das Gefühl, dass die jetzt lebende Generation verstanden hat, dass sie gegenüber ihren Nachkommen ungerecht handelt?
Schwartz: Nein. Das Beste, was zukünftige Generationen noch über uns sagen könnten, wäre im Grunde: nichts. Das Beste wäre, wenn sie über uns schweigen. Gerechtigkeit schreit nach Verantwortungsübernahme. Und wir leben zu einem großen Teil immer noch verantwortungslos – und somit ungerecht. Das ist auch aus theologischer Sicht so – denn letztlich sind uns diese Welt und das Leben darauf anvertraut und nicht zu unserer Willkür gegeben.
Lesch: Es geht alles viel zu langsam. Im Grunde müssten wir mit dem LNG-Tempo von Wilhelmshaven überall anfangen, erneuerbare Energien auszubauen. Aber schauen wir zum Beispiel nach Bayern: Da sollen Kommunen nun Flächennutzungspläne aufstellen, wo Windräder gebaut werden können. Und natürlich stellen die alle fest, dass es bei ihnen auf keinen Fall geht. Klimaschutz? Ja, unbedingt! Überall – aber nicht bei uns. Dass uns das in Deutschland nicht gelingt, ist ein Zeichen dafür, dass es noch keinen gesamtgesellschaftlichen Impuls gibt, die Klimakrise als Gerechtigkeitsfrage zu sehen.
Die Klimakrise ist ein Generationenkonflikt, der alle Menschen weltweit betrifft. Können wir eine globale Gerechtigkeit schaffen?
Lesch: Nein, denn schon die Lebensverhältnisse sind völlig ungerecht verteilt. Der Biologe Jared Diamond hat untersucht, warum Teile der Welt niemals ein gewisses Wohlstandsniveau erreichen konnten. Das hat auch geografische Hintergründe: Es gab keine Wasserläufe oder Gebirgsketten verhinderten, dass fortschrittliche Ideen in eine Region getragen wurden. Es ist ja kein Zufall, dass Hochkulturen immer an Flüssen entstanden sind. Daran sieht man, dass die Natur gnadenlos ist – aber auch, welche Verantwortung und welches Potenzial in uns Menschen steckt. Hannah Arendt hat einmal gesagt, dass der Mensch das einzige Wesen ist, das aktiv handeln kann. Wir können durch unser Handeln versuchen, die natürlichen Ungleichheiten auszugleichen, und damit Gerechtigkeit schaffen.
Welche Rolle kann dabei der Glaube spielen?
Lesch: An diesem Punkt kommen die Religiösen und die Nicht-Religiösen zusammen. Wir sind alle Kinder der Natur, und wenn wir als Christen sprechen, reden wir als Kinder Gottes. Uns treibt die Hoffnung, dass es uns gelingen kann, mit der Freiheit, die wir bekommen haben, auch entsprechend umzugehen. Dass wir sie nicht zu unserem eigenen Nutzen, sondern zum Nutzen vieler verwenden. Davon handelt letztlich auch das Gespräch zwischen Naturwissenschaften und Theologie. Thomas und ich sind gewissermaßen der Unterschied zwischen Werten und Messwerten. Wir leben nach unseren Werten, brauchen aber Messwerte zur Orientierung.
Schwartz: Und Werte sind erst etwas wert, wenn man bereit ist, sich für ihre Verwirklichung zu engagieren. Je mehr wir investieren, desto wichtiger wird der Wert. Wenn wir Gerechtigkeit als einen Wert anschauen, dann ist dieser im Moment in unserer Gesellschaft immer noch unterbewertet. Und diejenigen, die immer nach Gerechtigkeit rufen, rufen nicht unbedingt nach einem Ausgleich und nach einer Gerechtigkeit, in der alle gleiches Recht bekommen, sondern sie rufen nach einer Gerechtigkeit, um zu ihrem Recht zu kommen.
Bei solchen Rufen geht es häufig ums Geld.
Schwartz: Ja. Dabei ist Geld das Ungerechteste, was es gibt. Wer es nicht hat, der ist aus Lebenszusammenhängen in unserer Gesellschaft ausgeschlossen. Und wer es hat, der zerstört unsere Lebensgrundlagen. Die Reichsten haben den größten ökologischen Fußabdruck.
Der Krieg in der Ukraine lässt bei uns die Inflation in die Höhe schnellen – und die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Ist es für die Politik überhaupt möglich, einen gerechten Ausgleich zu schaffen?
Schwartz: Grundsätzlich sind Ungleichheiten für eine Gesellschaft sogar wichtig. Dort, wo alles ausgeglichen ist, bewegt sich nichts mehr. Aber: Jeder Mensch soll einen Anteil haben an den Chancen, die eine Gesellschaft bietet. Jeder soll heizen und Bildung genießen, sich einbringen und an der Willensbildung der Gesellschaft beteiligen können. Geld ist nur dazu da, um bei einer solchen Chancengleichheit zu helfen. Sonst ist Geld nichts wert.
Lesch: Es ist die Frage, wie groß die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind. Ich bin 1960 geboren und in einem Dorf aufgewachsen. Die Leute waren alle mehr oder weniger gleich wohlhabend. Aber nun haben wir 30 Jahre neoliberale Entwicklung hinter uns. Der Staat muss jetzt dafür sorgen, dass es über eine entsprechende Besteuerung zu einer Umverteilung des Geldes kommt.
Wie kann das aussehen?
Lesch: Dank der Digitalisierung der Finanzmärkte kann heute mit Geld schneller Geld verdient werden als mit irgendeiner Form von händischer Arbeit. Das müssen wir dementsprechend besteuern. In Deutschland werden Vermögensgewinne mit 25 Prozent, Einkünfte aus Arbeit im Maximum aber mit 42 Prozent besteuert. Das ist doch völliger Wahnsinn! Wenn wir da nichts unternehmen, werden wir einst sehr reiche Leute haben, die sich hinter sehr hohen Mauern verstecken müssen, weil um sie herum ein Meer von Armut entsteht. Wir sehen das ja in Ländern, wo die Schere von Arm und Reich sehr weit aufgeht: Krisen, Konflikte, Kriege. Das können wir alles verhindern.
Schwartz: Genau dieses Wirtschaftssystem prangert Papst Franziskus mit seiner Soziallehre immer wieder an: Eine Wirtschaft, die Ungleichheiten immer größer werden lässt, die tötet. Reiche, die sich verstecken, um ihren Reichtum zu schützen. Was ist das noch für eine Lebensqualität? Ist das noch ein gutes Leben? Ich bin auch auf dem Dorf großgeworden. Da galt als gutes Leben, dass man sich nicht verstecken musste. Da waren die Türen offen, man brauchte keinen Schlüssel. Man konnte jederzeit kommen, weil es allen gleich gut ging – nicht gleich schlecht. Die Welt hat genug für alle. Sie hat nur nicht genügend für die Gier von allen.
Wie steht es denn um den Gerechtigkeitssinn in der deutschen Gesellschaft?
Lesch: Wir haben uns in den Jahren seit der Wiedervereinigung der Bundesrepublik zu sehr auf Unterschiede konzentriert. Aber wir haben nicht herausgefunden, was uns eigentlich zusammenhält. Ich kann nur hoffen, dass zukünftige Generationen wieder mehr spüren, wie wichtig es ist, zusammenzuhalten und nicht ständig Argumente für Trennendes zu finden.
Schwartz: Wir müssen lernen, dass es gut ist, Gerechtigkeit zu leben. Dass es das Leben reicher macht, wenn es gerecht zugeht. Wir leben momentan in einer ungerechten Gesellschaft, in der sich die Reichen in obszöner Weise alles leisten können – und es in den Medien auch noch bewundert wird. Dort, wo Ausgleich und Gerechtigkeit gelebt werden, wo Friedlichkeit und Friedfertigkeit möglich sind, wird das fast eher belächelt. Das ist das Ungerechteste, was wir uns als Menschheit und uns als Gesellschaft antun können.
Lesch: Wir brauchen viel mehr Mitmenschlichkeit. Da sind wir gleich bei einer religiösen Dimension: religio heißt auch, sich zurückzubinden, zu schauen, was uns stützt und was uns als Menschen ausmacht. Das ist kein Egoismus, sondern ein Zusammen. Aber diese alten Rezepte scheinen nicht mehr gewollt zu sein.
Ein hartes Zeugnis für die Gesellschaft. Haben Sie noch Hoffnung auf Gerechtigkeit?
Lesch: Gerade die Tatsache, dass wir die Möglichkeit haben, diese Dinge wahrzunehmen und zu verändern, ist meine große Hoffnung. Solange ich sehe, dass Veränderungen stattfinden, solange wird auch meine Hoffnung da sein.
Schwartz: Wir dürfen immer wieder mit Wundern rechnen. Wer das nicht tut, der wird hoffnungslos. Gerechtigkeit ist ein Wunder des Menschseins. Deswegen sind wir beide hoffnungslose Optimisten der Gerechtigkeit.
Und bei den Wundern kann auch der Naturwissenschaftler zustimmen?
Lesch: Selbstverständlich. Dieser Satz stammt von Hannah Arendt: Da, wo Menschen zusammenkommen, kann man mit Wundern rechnen.
Interview: Kerstin Ostendorf/KNA