Wie sieht Ihre Arbeit in der Notfall- beziehungsweise in der Krankenhausseelsorge aus und wie liegen Ihre Schwerpunkte?
Stephan Hartmann: Wir werden durch eine Rettungsleitstelle alarmiert bei besonders schwierigen Fällen. 80 Prozent davon sind häusliche Einsätze, wenn jemand urplötzlich verstirbt. Der Rettungsdienst ist vor Ort, muss aber wieder abrücken, und damit derjenige, der zurückbleibt, nicht allein ist, sind wir da. Um das soziale Umfeld wieder ein bisschen zu stabilisieren. Werden wir zu Unfällen gerufen, geht es um die Betreuung von Zeugen, die den Unfall miterlebt haben, bis hin zu Angehörigen, die zur Unfallstelle kommen, oder dann später die Überbringung der Todesnachricht zusammen mit der Polizei. Das sind vielfältige Arbeitsfelder, von denen wir von jetzt auf gleich gerufen werden. Das sind bei uns im Landkreis Bad Kissingen im Schnitt 40 Einsätze im Jahr. Viele aus dem pastoralen Dienst machen mit – denn eigentlich ist es auch der normale seelsorgliche Dienst. Früher war es üblich, dass der Pfarrer gerufen wurde, wenn jemand zu Hause verstarb; heute kommt ein Notfallseelsorger.
Wiltrud Stoer: Wir sind als Seelsorger ökumenisch im System Krankenhaus verankert. Wir sind dort 24 Stunden für die Menschen erreichbar: Patienten, Angehörige, das Personal. Der Schwerpunkt liegt beim Besuch der Patienten. Wir suchen sie in Krisensituationen auf, in Krankheiten, im Sterben, im Tod, bei Geburten, bei Fehlgeburten. Wir betreuen die Betroffenen ebenso wie die Angehörigen, dadurch entlasten wir außerdem das Personal. Zudem sind wir in ethischen Fragen Ansprechpartner, um auch von seelsorglicher Seite schwierige Entscheidungen mitzutragen.
Die Pandemie hat alles verändert – seit rund zwei Jahren ist das so. Wie hat diese Zeit Ihre Arbeit beeinflusst?
Wiltrud Stoer: In der Klinik waren die Menschen durch uns aufgefangen, wobei das letztlich ein Tropfen auf dem heißen Stein war. Denn das, was über uns reingebrochen ist, in dem Ausmaß und in dieser Intensität, hat auch uns überwältigt. Die Klinikseelsorge konnte aber in der ganzen Zeit durchweg im Haus präsent bleiben. Wir mussten zu Beginn für uns selbst entscheiden, ob wir zu den Patienten reingehen und haben das mit dem Träger abgestimmt. In der Zeit haben alle Kolleginnen und Kollegen gesagt, wir bleiben an den Menschen dran, es ist unsere Aufgabe, da zu sein. Wir waren für lange Zeit die einzigen Besucher für die Patienten. Eine unbekannte Krankheit, das Besuchsverbot; es darf fast niemand mehr ins Haus – bis heute. Das ist für alle Patienten sehr belastend. Am Anfang der Pandemie hatten wir das Gefühl, alle halten zusammen, das stemmen wir. Aber je länger die Pandemie geht, umso mehr ist das Personal am Ende. Viele kündigen, reduzieren – personell gerät das Gesundheitswesen an die Grenzen. Und das erleben wir hautnah.
Wie empfanden Sie die Begleitung der Sterbenden in dieser Zeit?
Wiltrud Stoer: Es war viel für uns – so viele Sterbebegleitungen unter anderen Bedingungen. Durch das Besuchsverbot waren die schwerkranken Patienten allein und oft auch einsam. Die Angehörigen haben sie zuletzt bei der Einlieferung ins Krankenhaus gesehen und durften dann erst wieder kommen, wenn die Patienten im Sterben lagen. Die wichtigen Wochen dazwischen fehlen – für beide. In diesen Wochen waren wir da, haben die Patienten besucht, telefonische Kontakte hergestellt, mit den Angehörigen gesprochen und den Patienten das Telefon ans Ohr gehalten, damit Angehörige mit ihnen reden, singen und auch beten konnten.
Was haben Sie in dieser belastenden Zeit getan, damit es Ihnen selbst gut ging?
Wiltrud Stoer: Wir sind ein ökumenisches Team von sechs Leuten und haben uns gestützt und gegenseitig Mut gemacht. Wir konnten uns Auszeiten nehmen, dann ist ein anderer eingesprungen. Und wir hatten die ganze Zeit hindurch Supervisionen. Das hat gut getan.
In der Krankenhausseelsorge hat sich der Blick verschoben – warum?
Wiltrud Stoer: Aufhebungen von Beschränkungen hin oder her – die Pandemie ist noch immer in vollem Gange. Wir haben viele Covid-Kranke und viele vom Personal haben sich angesteckt. Das verschärft die ganze Personalsituation noch einmal. Die Personalsituation ist ein politisches Problem, das sich immer mehr zugespitzt hat. Durch die Pandemie hat sich das ganze Ausmaß aufgezeigt. Als Seelsorger hatten wir das Personal schon immer mit im Blick, doch durch die Pandemie hat sich der Schwerpunkt eindeutig in diese Richtung verschoben. Viele haben uns zurückgemeldet, es ist so gut, dass ihr da seid und manches auffangt, wir euch rufen können. Ich glaube, unser Stand im Haus hat sich durch die Pandemie verändert, weil der Wert von Seelsorge deutlich wurde: Wie wichtig es ist, Menschen zu haben, die andere begleiten, zuhören, sortieren, die einsamen Menschen ein Gesicht geben, die sie raus aus der Isolation und rein ins Leben holen.
Was hat Ihnen beiden die Arbeit schwer gemacht?
Stephan Hartmann: Bei uns war es durch die Pandemie nicht groß anders als sonst; wir hatten lediglich weniger Einsätze, weil der Rettungsdienst zweimal überlegt hat, ob er uns alarmiert. Ansonsten war Corona kein Hinderungsgrund für uns, dort aufzuschlagen, wo wir gebraucht wurden. Wir sind hingegangen in der Hoffnung, auch gesund wieder zurückzukommen. Für uns lag die Schwierigkeit darin, dass keine persönliche Berührung stattgefunden hat. Dass die Möglichkeit, unsere Anteilnahme auch körperlich zu signalisieren, überhaupt nicht möglich war.
Wiltrud Stoer: Wir haben in der Krankenhausseelsorge im Einzelfall abgewogen. Manchmal bekommt man nur durch Berührung Zugang zu einem Menschen. Wir fühlen uns noch heute fremd in dieser Schutzkleidung, es ist nicht unsere Form, aber es ist die einzige Möglichkeit, Zugang zu bekommen und dann nimmt man das in Kauf. Es zählt, wie ich innerlich da bin, nicht, wie ich optisch aussehe. Wie gelingt Begegnung? Und das tut es auch in Schutzkleidung und mit Abstand.
Hat sich praktisch in der Arbeit etwas verändert?
Stephan Hartmann: Unsere Mittel sind die gleichen, wir sind im Einsatz in der Regel allein, selten kommt es vor, dass wir einen zweiten Seelsorger dazu holen. Ich glaube da hat sich in der Krankenhausseelsorge wesentlich mehr getan ...
Wiltrud Stoer: Wir hatten und haben nach wie vor immer die Not im Blick, und wenn sie irgendwo stärker wird, sind wir dort stärker präsent. Wir müssen weiterhin flexibel sein und schauen, wo es brennt und wo Menschen am Limit sind, um sie aufzufangen.
Was muss sich ändern?
Wiltrud Stoer: Es wird gesagt, es brauche mehr Wertschätzung fürs Pflegepersonal, es geschieht aber nichts. Das ist das Tragische und da muss sich wirklich etwas bewegen. Die Arbeitsbedingungen und Bezahlung derer müssen stimmen, die diesen Beruf gerne ausüben. Wir Klinikseelsorger konnten so gut im Haus agieren, weil wir vor Ort sind. Doch es wird auch hier über Sparkurse diskutiert. Nur ist meine Sorge die, dass dies in letzter Konsequenz eben nicht durchgedacht wird, was das für die Kliniken bedeuten würde. Wenn die Kliniken nicht mehr von Klinikseelsorgern, sondern von Seelsorgern von außerhalb mitbetreut werden, hätten die in der Pandemie keine Chance gehabt in die Klinken rein zu kommen. Es gäbe dann nur noch eine liturgische Versorgung; auch wenn das ein wichtiges Feld ist, ist es nicht das einzige. Diakonie ist das größere.
Haben sich die Menschen verändert?
Stephan Hartmann: Die Erfahrung hat auch in der Pandemiezeit gezeigt: Die Menschen kümmern sich in der Regel umeinander. Ich musste niemanden motivieren. Ich denke da auch immer wieder – der Anlass ist dann so massiv, dass Corona kurz in die zweite Reihe gerückt ist.
Was nehmen Sie aus den vergangenen zwei Jahren mit?
Wiltrud Stoer: Die Pandemie hat uns gezeigt, wie fragil unser Leben ist. Wir haben es nicht in der Hand und es kann ein kleines Virus sein, das alles scheinbar Sichere in Frage stellt. Ich sehe die Öffnungen sehr kritisch, verstehe aber auch die Menschen draußen. Denn wir brauchen die Normalität, um uns wieder zu stabilisieren. Aber es ist noch nicht durch. Und wir als Christen können uns da nicht drücken. Unser Platz ist da rein zu gehen. Zu schauen, was trägt uns und welche Hoffnung haben wir? Denn unsere Welt ist keine heile Welt, und wir werden uns dem stellen müssen. Als Kirche sind wir schon in sozialen Räumen unterwegs. Wir müssen das stärken und fördern, was schon da ist.
Stephan Hartmann: Dem kann ich mich hundertprozentig anschließen: Die Welt braucht nicht die Verdopplung der Hoffnungslosigkeit, sondern die Sprengkraft gelebter Hoffnung.
Interview: Judith Bornemann