Sonntagsblatt: Warum haben schwer kranke Menschen oft das starke Bedürfnis nach Spiritualität und Gebet?
Arndt Büssing: Weil wir jemanden brauchen, an den wir uns hilfesuchend wenden können. Häufig sind die Möglichkeiten der Medizin begrenzt, und dann braucht es eine Instanz, bei der wir Enttäuschung, Wut und Frust loswerden können. Nicht umsonst formulieren viele biblische Psalmen genau diese Töne und treten Gott kräftig vors Schienbein. Das Besondere beim Beten ist, dass der Beter in einer Beziehung bleibt. Ein Bittgebet ist immer auch Beziehungsbitte: „Lass uns darüber sprechen!“ Und auch wenn der Beter nach dem Gebet immer noch krank ist, konnte er seine Not artikulieren – in der Gewissheit: Da ist jemand, der mich hört!
Gehört zu werden ist schön, aber hilft Beten denn auch heilen?
Mit dem Heilen ist das so eine Sache. Es gibt einige Studien zum Fürbittgebet. Dabei kam heraus, dass Menschen, für die durch Unbekannte gebetet wurde, nach bestimmten Operationen bessere Verläufe zu haben schienen. Eine andere Studie legte das genaue Gegenteil nahe, nämlich dass Menschen im Wissen, dass für sie gebetet wurde, eine etwas schlechter Prognose hatten. Vielleicht weil sie dachten: „Oje, steht es so schlimm um mich?“ Je besser die methodische Qualität der Studien war, desto unschärfer wurde das Ergebnis. Im Grunde will man mit diesen Studien einen Gottesbeweis provozieren – so wie beim alten Elija: „O Herr, wirf Gesundheit vom Himmel!“ Gott wird hier zur Studienvariable degradiert. Und er hat sich nicht testen lassen. Anders ist es, wenn Menschen selbst oder mit anderen beten.
Was passiert denn bei dieser Art des Gebets?
Beten ist eine Möglichkeit der emotionalen Entlastung. Beten entstresst. Wenn ich überzeugt bin, dass ich – ganz egal wie es ausgeht – in Gottes Händen aufgehoben bin, lässt der innere Druck nach. Beim meditativen Gebet, in dem ich das „Dein Wille geschehe“ formuliere, lasse ich innerlich los und das begünstigt möglicherweise den Genesungsprozess. In tiefer Verzweiflung können wiederum ritualisierte Gebete wie das Jesusgebet helfen, weil sie durch mantrische Wiederholung den Frust kanalisieren und Körper und Geist runterkommen lassen – ganz auf Gott ausrichten.
Das funktioniert aber auch mit autogenem Training ...
Natürlich. Schon Stillsitzen führt zu formaler Beruhigung: Die Herzfrequenz sinkt, der Atem wird tiefer, bestimmte Rhythmen im Körper synchronisieren sich. Der Unterschied ist aber, dass man sich im Gebet mit einer uralten Tradition verknüpft. Man verbindet sich mit eigenen Erfahrungen und mit Generationen anderer Beter. Das hat auch etwas Tröstliches.
Lässt sich diese Wirkung des Gebets wissenschaftlich nachweisen?
Das ist nicht einfach. Neben dem Zeitpunkt des Gebets spielt zum Beispiel auch die Gebetsform eine Rolle: Während mich eine Form zur Ruhe kommen lässt, führt mich eine andere in ein inneres Gespräch. Manche Dinge lassen sich so korrelativ belegen, andere nicht. Und mal ehrlich: Was nützen mir solche Zahlen hinsichtlich der Wirksamkeitsbeurteilung?
Und was ist mit wunderbaren Gebetserhörungen oder unerklärlichen Heilungen?
Ich habe Schwierigkeiten, das Gebet als Automatismus oder Instrument der Wunscherfüllung zu sehen – nach dem Motto: „Bete nur mal anständig, dann wird dir alles gewährt.“ Spiritualität auf Kassenrezept funktioniert so nun mal nicht! Und doch kenne ich Menschen, bei denen im Zuge des Gebets Dinge eingetreten sind, die sie so nicht erwartet oder erbetet hatten. Das Wort „Wunder“ möchte ich hier nicht bemühen, aber zumindest wurde eine Form von Gnade gewährt, die sich der unmittelbaren Erklärbarkeit entzieht. Das sind individuelle Geschichten, die zeigen, dass man auch Hoffnung auf etwas Unerwartetes haben darf. Auf kollektive Zusammenhänge verweisen sie aber nicht. So wie man die Heilungsgeschichten der Bibel auch nicht als allgemeingültig interpretieren sollte. Sonst wären ja alle Blinden, die beten, nicht mehr blind.
Wenn Beten also gut tut, warum kommt es nicht in der modernen Medizin vor?
Aus guten Gründen. Wenn ich als Arzt einem Patienten das Beten vorschlage, werden die meisten irritiert sein. Ich treffe hier auf Menschen, deren Biographie und spirituellen Hintergrund ich nicht kenne. In einer Krise so auf jemanden zuzugehen, halte ich außerdem für übergriffig. Ein Gebet muss aus einer Beziehung heraus entstehen. Erst wenn es gemeinsam gewollt wird, kann ich ein gemeinsames Gebet anbieten.
Interview: Anja Legge (Sonntagsblatt)