Menschen, die an einer Magersucht leiden, geht meist ein ziemliches Stück Objektivität verloren. Eine spindeldünne Frau mit Anorexie, so der Fachausdruck für Magersucht, kann sich zum Beispiel immer noch zu dick fühlen. Auch in Bezug auf gesunde Ernährung verliert sich mitunter jedes Maß. „Alles kann damit beginnen, dass man sich gesund ernähren möchte, doch plötzlich gelten immer mehr Lebensmittel als ‚schlecht‘“, erklärt Caritas-Mitarbeiterin Jana Kürschner, die seit einem Jahr Frauen mit einer Essstörung berät. Der Speiseplan engt sich mehr und mehr ein. Selbst von den „guten“ Lebensmitteln wird immer weniger gegessen.
Kontrollverlust
Andere Betroffene stopfen während einer Heißhungerattacke unkontrolliert jeden Pamps in sich hinein, den sie im Kühlschrank finden. Manche erbrechen sich danach. Andere ertragen das schreckliche Völlegefühl. Sie leiden. Schämen sich. Und wünschen nur: „Wäre ich doch endlich davon frei!“
Jana Kürschner trifft sich jede Woche mit bis zu zehn Frauen, die an einer Form von Essstörung leiden. „Die meisten sind im Alter zwischen 18 und 30“, sagt sie. In der angeleiteten Gruppe wird über Identitätsprobleme gesprochen. Über Ablösungsprozesse. Über Freundschaft. „Aber oft auch über Weltpolitisches.“ Was in der Welt vor sich geht, macht vielen Frauen Angst.
Dass sich die persönliche Lebenssituation schnell wie der Wind ändern kann, macht auch Christine S. (Name geändert) zu schaffen. Die Corona-Krise wirbelte ihr Studium durcheinander. Der Konflikt in der Ukraine löst bei ihr Angst vor einem Weltkrieg aus. „Ich versuche, keine Nachrichten mehr zu schauen“, sagt die 28-Jährige, die im Winter 2020 den Weg in die Suchtberatungsstelle der Caritas fand. Damals, berichtet sie, habe sie sich nach mehreren Jahren endlich eingestehen können, dass ihr Essverhalten nicht normal ist.
Emotionale Achterbahnfahrten
Im Falle von Christine S. ist „Essstörung“ ein zahmes Wort für die heftigen emotionalen Achterbahnfahrten, die sie durchmacht. „Bei mir wechselt die Essstörung zwischen Phasen mit sehr restriktivem Essverhalten, die dann plötzlich in Phasen mit totalem Kontrollverlust kippen können“, berichtet sie. Zudem ist die Essstörung nicht ihr einziges Problem. Christine S. muss außerdem mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer Borderline-Erkrankung klarkommen. Dies alles ist so schwierig und kostet sie so viel Kraft, dass sie ihr Studium vor Kurzem abbrechen musste. Obwohl nicht mehr viel bis zum Abschluss gefehlt hätte.
Historisch gesehen sind Essstörungen nichts Ungewöhnliches, schon im Altertum gab es adipöse Menschen. Ende des 19. Jahrhunderts sorgten „Hungerkünstler“ für Aufsehen. Doch obwohl es sich um etwas Altbekanntes handelt, stoßen Betroffene ständig auf Vorurteile und Befremden. Es erscheint so paradox, dass sich ein Mensch zum Hungern zwingt. „Was Nichtbetroffene einfach nicht verstehen können, ist, dass es im Fall einer Anorexie nicht ums Essen, sondern um Kontrolle über den eigenen Körper geht“, erklärt Christine S. Zumindest den eigenen Körper kontrollieren zu können, gebe Halt in Phasen, in denen das ganze Leben außer Kontrolle zu sein scheint.
Zweifel und Einsamkeit
Die weit verbreitete Verständnislosigkeit rührt nicht zuletzt daher, dass Männer und Frauen mit einer Magersucht eher nicht bekanntgeben, was mit ihnen los ist. Viele neigen, wie Christine S., dazu, sich zu isolieren. Und zwar aus mehreren Gründen: „Ich tat das lange zum Beispiel deshalb, weil ich Angst davor hatte, wegen dem, was und wie ich esse, verurteilt zu werden.“ Es gab allerdings noch einen zweiten Grund: „Ich wollte anderen mit meinen Problemen nicht zur Last fallen.“ Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten fiel es aus diesem Grund schwer, sie zu verstehen. Aber auch Christine S. tat die Isolation nicht gut.
In den Einzel- und Gruppengesprächen bei der Caritas kommen immer wieder quälerische Selbstzweifel und Gefühle tiefer Einsamkeit zum Ausdruck. Viele ihrer Klientinnen, sagt Jana Kürschner, haben Traumatisches erlebt. Die aktuellen Krisen verschärfen die vorhandenen Probleme. Durch den Zwang, alleine zu Hause lernen zu müssen, fühlten sich Studentinnen oft isoliert: „Und ganz verloren in dieser Welt.“ Einen gewissen Halt finden Frauen mit Anorexie in der vermeintlichen Kontrolle über ihren Körper, bestätigt die Therapeutin. Auch eine Frau um die 50 oder eine Ruheständlerin können von Magersucht betroffen sein. Männer leiden ebenfalls zunehmend unter dieser Störung. In die Beratungsstelle der Caritas allerdings kommen vor allem junge Frauen.
Vernetzte Hilfe
„Der Impuls, uns aufzusuchen, geht oft von Angehörigen oder Hausärzten aus“, berichtet Jana Kürschner. Mit vielen Hausärzten ihrer Klienten steht die Beraterin in Kontakt. Menschen mit einer Essstörung, betont sie, müssen in einem Netzwerk unterstützt werden: „Dazu gehören Hausärzte, Psychotherapeutinnen und manchmal auch Ernährungsberaterinnen.“ Letztlich könne es nur mit einem solchen Netzwerk gelingen, die Störung zu überwinden.
Eine Magersucht erleben Betroffene als einfach nur grauenvoll. „Der ganze Tag dreht sich ums Essen, also, ob man jetzt etwas essen darf oder nicht, und was man genau essen könnte“, schildert Jana Kürschner. Nicht nur der Speiseplan enge sich ein. Sondern das ganze Leben. „Hinzu kommt in der aktuellen Situation Perspektivlosigkeit“, ergänzt die systemische Therapeutin. Was sich auf dem Globus vollzieht, erscheint als derart schrecklich, dass immer mehr junge Frauen zu ihr sagen: „In diese Welt will ich auf keinen Fall Kinder setzen.“
Grundsätzlich ist eine Essstörung therapierbar, allerdings benötigt der Heilungsprozess viel Zeit. Betroffene sind oft mehrmals in der Klinik. „Ganz wichtig wären Angebote der Nachsorge“, bekräftigt Jana Kürschner: „Das gibt es in Würzburg kaum.“ Die Caritas-Einrichtung selbst bräuchte laut Einrichtungsleiterin Petra Müller mehr Spezialistinnen und Spezialisten. „Letztlich wäre es notwendig, in Würzburg eine Fachstelle für Essstörungen zu etablieren“, unterstreicht sie. Nachfrage gäbe es reichlich.
Tipps für Umgang mit Betroffenen
Zum Umgang mit Betroffenen geben die Expertinnen Ratschläge. Was Angehörige nicht tun sollen: sich ins Essen einmischen; das Essen der Betroffenen kontrollieren; dem Thema „Essen“ einen zu großen Raum geben; den Einkauf oder die Nahrungszubereitung zu stark an die Essstörung anpassen. Was Angehörige tun können: den Fokus von der Krankheit weg und wieder auf den Menschen richten; die Essstörung nur als einen Teil einer façettenreichen Persönlichkeit ansehen; die Verantwortung möglichst wieder an die oder den Betroffenen zurückgeben; in lebensbedrohlichen Situationen beherzt handeln und eingreifen; nichts verschweigen, sondern Problem benennen, ohne Vorwürfe zu machen; eigene Bedürfnisse in Form von Ich-Botschaften ansprechen: „Ich mache mir Sorgen.“
Pat Christ
Die Psychosoziale Beratungsstelle für Suchtprobleme der Würzburger Caritas befindet sich im Matthias-Ehrenfried-Haus in der Bahnhofstraße 4-6, Telefon 0931/386-59180; E-Mail: sucht@caritas-wuerzburg.org.