Alexander Kolbow zum Beispiel hat es nicht selten mit Menschen zu tun, die sich im Leben mühsam durchkämpfen müssen. Der 44-Jährige fungiert als geschäftsführender Diözesansekretär der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung in der Diözese Würzburg, er ist mit Leib und Seele Sozialdemokrat und Mitglied des Würzburger Stadtrats. „Wer in einem politischen Sozialverband wie der KAB engagiert ist, muss sich trauen, den Mund aufzumachen“, sagt er. Für Kolbow ist es völlig normal, dies zu tun. Oft widerspricht er anderen Menschen: „Zum Beispiel, wenn ich rassistische, sexistische oder diskriminierende Aussagen höre.“
Position beziehen
„Zivilcourage“ ist ein dehnbarer Begriff. Alexander Kolbow füllt ihn anhand von Beispielen mit Leben. „Immer mehr Leute stellen das Grundrecht auf Asyl infrage“, sagt er. Erst neulich hatte er eine entsprechende Diskussion gehabt. Und zwar an einem Stand, an dem er für seine Partei im Vorfeld der Landtagswahl warb. „Wie viele Flüchtlinge sollen denn noch kommen?“, fragte ihn ein Passant. Kolbow machte dem Mann klar, dass es in Deutschland ein Grundrecht auf Asyl gibt. Und zwar ohne Obergrenze: „Es ist bedingungslos.“ Der KAB-Mann wusste, dass er sich den Mann mit dieser Äußerung nicht zum Freund machte. Doch das war ihm egal. Viel wichtiger war ihm, Position zu beziehen.
Nun ist es so, dass man hierzulande das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung hat. Ebenso wie das Recht, zu demonstrieren. Alexander Kolbow sind alle Grundrechte gleich wichtig. Hätte sich der Mann am Stand sachlich auf eine Diskussion eingelassen, hätte er ihm gegenüber auch eingeräumt, dass es in Bezug auf Flüchtlinge durchaus Probleme gibt, die angepackt gehören: „Wir müssen viel intensiver darauf gucken, dass wir wirklich Integration ermöglichen.“ Es bräuchte mehr Angebote zum Sprachenlernen. Mehr Arbeitsplätze für Geflüchtete. Und mehr Wohnraum.
Neonazis in der Bahn
Ganz konkret Zivilcourage zeigte vor einiger Zeit auch Ricardo Altieri, Leiter des Johanna-Stahl-Zentrums für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken. „Es war bei einer Fahrt mit der Regionalbahn“, erzählt er. Eine vierköpfige Familie mit Migrationshintergrund sei von angetrunkenen Neonazis blöd angemacht worden. Das geschah nach einer Ticketkontrolle, die offenbarte, dass die Familie sprachliche Schwierigkeiten hatte. „Als der Schaffner weg war, ging einer der Neonazis zu der Familie und meinte: „Wenn ihr kein Deutsch sprechen könnt, habt ihr hier nichts zu suchen!‘“ Für die beiden kleinen Mädchen der Familie sei dies alles sehr dramatisch gewesen, so Altieri. „Und obwohl die Typen ziemlich brutal aussahen, dachte ich mir, dass ich dazwischengehen will.“ Zuerst allerdings, erinnert sich der Historiker, habe er nur einen der Typen gesehen. Als er zu dem Mann ging und ihn zurechtweisen wollte, stand plötzlich sein Kumpan daneben. Ricardo Altieri beschlich ein mulmiges Gefühl: „Ich dachte in diesem Augenblick, dass das jetzt bestimmt übel ausgehen wird.“ Doch plötzlich seien andere Leute in dem Abteil aufgestanden. Da ließen die Neonazis von ihm und der Familie ab.
Unangebrachte Kontrollen
Noch ein zweites Mal zeigte Ricardo Altieri Zivilcourage. Dabei ging es darum, dass eine Familie aus Afrika im Zug die Ausweise vorzeigen sollte. Und zwar als einzige. Ricardo Altieri protestierte bei der Polizei: „Denn das ist Racial Profiling.“
Insgesamt spitzen sich die gesellschaftlichen Konflikte zu, beobachtet der Geschichtswissenschaftler. Vor allem scheinen Konflikte immer rascher zu eskalieren. Ein Grund könnte sein, dass, wie eine Studie jüngst herausgefunden hat, vor allem jüngere Leute inzwischen sehr häufig ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben. „Ich habe den Eindruck, als würde unsere Demokratie gerade ein richtiges Tief durchlaufen“, sagt Ricardo Altieri. Deshalb würde er sich wünschen, dass man in der Schule oder an der Uni mehr Input bekäme, wie man Situationen deeskalieren kann. Dazu gebe es viele gute Ansätze in Verteidigungssportarten. Nur leider seien die kaum bekannt.
Konfliktfähigkeit gefragt
Ob jemand zivilcouragiert handeln kann oder nicht, hängt nach Einschätzung von Klaus Roos, Pastoraltheologe aus Marktheidenfeld, davon ab, inwieweit dieser Mensch konfliktfähig ist. Ob jemand konfliktfähig ist, habe wiederum sehr viel mit seiner Sozialisation zu tun. Manchen Eltern ist es überaus wichtig, dass ihre Kinder couragiert aufwachsen. Andere Kinder werden eher zu Gehorsam, wenn nicht gar zu Duckmäusertum erzogen. „Auch ich musste Zivilcourage erst lernen“, gibt Klaus Roos zu.
Ein exquisites Lernfeld war der Pfarrgemeinderat von Marktheidenfeld, in den Klaus Roos im Jahr 1970 als 17 Jahre alter Jugendvertreter im Nachrückverfahren kam. „Da war ich mit lauter älteren Honoratioren zusammen, mit einem Oberlehrer, einem Geschäftsmann, einem höheren Beamten, mit dem zweiten Bürgermeister und einem dominanten Pfarrer alten Stils“, erzählt er. Oft habe er sich nicht getraut, etwas Kritisches zu sagen: „Doch manchmal hatte ich den Mut und äußerte meine Meinung, und dann entstanden auch schon mal Konflikte.“
Weiter ging es in den Achtzigerjahren, als Klaus Roos in den Vorstand des Diözesanrats gewählt wurde: „Wieder war ich von Menschen umgeben, die 40 Jahre älter waren als ich.“ Wieder war er der Jüngste. Und wieder hatte es Zivilcourage gekostet, Kritisches zu bemerken. Zivilcourage bedeutet für Klaus Roos vor allem, sich zu trauen, etwas aus tiefer innerer Überzeugung heraus gegen die Mehrheitsmeinung zu sagen. Als höchst bedenklich sieht er es an, dass Menschen, die dies tun, inzwischen, ohne, dass man sich wirklich intensiv mit ihren Argumenten befasst, öffentlich angegriffen werden. Das betraf zum Beispiel diejenigen, die während der Corona-Zeit gegen Impfungen oder Schulschließungen protestierten. Und es betrifft aktuell Menschen, die gegen Waffenlieferungen sind.
Vielfach engagiert
„Zivilcouragiert zu sein, ist gar nicht so einfach“, bestätigt Dominikus Bönsch. Der Psychiater ist Ärtzlicher Direktor des Lohrer Bezirkskrankenhauses, Mitglied im Lohrer Kirchenvorstand und Vorsitzender des Lohrer Fördervereins Kirchenmusik. Außerdem engagiert er sich bei einer Initiative unbestechlicher Ärzte namens „MEZIS − mein Essen zahl ich selbst“ sowie bei der Organisation „Leitlinienwatch“. Die ist Interessenskonflikten bei der Abfassung medizinischer Leitlinien auf der Spur.
Für eine demokratische Gesellschaft sei es wichtig, dass Menschen den Mut haben, sich mit ihren Einsichten aus der Deckung zu wagen und gegen jeden „Normierungszwang“ auch abweichende Standpunkte zu behaupten, betont der Professor. „Wenn mir selbst etwas wichtig ist, bin ich bereit, mich zu exponieren und auch unbequem zu sein“, erklärt er. Dabei denkt er daran, dass durchaus nicht allen Kollegen sein kritisches Engagement bei MEZIS und „Leitlinienwatch“ gefällt. Er tue sich das an, so Bönsch, weil er für seine Patienten kämpfen will. Die sollen aus humanen Erwägungen heraus behandelt werden. Mit dem einzigen Ziel, dass es ihnen besser geht. Und eben nicht in der Absicht, die Macht der Pharmaindustrie zu vergrößern.
Pat Christ