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    Alles Wissenswerte rund um Papst Leo XIV. und seine ersten 100 Tage im Amt...

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    Eine Geschichte von Gefallenen, Überlebenden und dem Wunsch nach Frieden

    Versöhnung über Gräber hinweg

    Eine kleine Fatima-Grotte steht seit 71 Jahren auf einer Anhöhe im fränkischen Grabfeld. Mit Blick auf ihr Heimatdorf Kleinbardorf (Dekanat Bad Neustadt) hatten sich an diesem Ort 1938, vor 85 Jahren, fünf Brüder voneinander verabschiedet. Der Krieg sollte sie für immer trennen. Nur zwei kamen zurück und ließen die Grotte errichten.

    Es war um Pfingsten herum gewesen: Wegen des Militärdienstes mussten sich fünf Brüder voneinander verabschieden. Zur Abendstunde gingen sie ein letztes Mal auf einen Berg und sangen Jugend- und Heimatlieder. Für die jungen Männer sollte es das letzte gemeinsame Treffen gewesen sein. Denn Josef (*26.7.1916), Erhard (*19.9.1919) und Rudolf (*22.3. 1921) fielen im Krieg. Otto (*25.7.1923) und Emil (*26.11.1914) überlebten ihn und ließen 1952 eine Nachbildung der Fatima-Grotte errichten – genau an jenem Aussichtspunkt, an dem sie sich einst von ihren Brüdern verabschiedet hatten.

    Auch heute noch, 71 Jahre danach, wird die Grotte bei Kleinbardorf in Ehren gehalten. Nachts angestrahlt, leuchtet sie weit in die Ferne. Erwin Hermann, der örtliche Maurer, hatte 1952 die Steine gesetzt. In Rucksäcken und mit einer Gießkanne schleppten Helfer Baumaterial und Wasser zur Anhöhe. An besonderen Festtagen spielen dort auch heute noch zwei Blasmusikanten.

    Der Überlebende Otto Kleinhenz schrieb seine Kriegserlebnisse auf und schilderte den Abschied der Brüder so: „An einem schönen Aussichtspunkt, wenige Meter unterhalb des Judenfriedhofs bei Kleinbardorf, sangen wir gemeinsam frohe Lieder, die bis zum Dorf hinunter gehört wurden. Am Ortsbrunnen standen Leute, die gerade Wasser schöpften und dort ihr Vieh tränkten. Das konnte man von oben sehen.“ Auch die Lieder, die Emil, Josef, Erhard, Rudolf und Otto Kleinhenz anstimmten, notierte der Kriegsheimkehrer: „War das ‘ne große Freude, als mich der Herrgott schuf“ und „Von den Bergen rauscht ein Wasser, wollt es wäre kühler Wein – kühler Wein, der soll es sein, Schatz, mein Schatz, ach könnt‘ ich bei dir sein.“ Was mag das für ein emotionaler Augenblick gewesen sein: Die Brüder schauten noch einmal über Wiesen und Felder ihrer Heimat und blickten auf die Pfarrkirche.

    Entsetzlicher Hunger quälte die Soldaten

    Gerade die Momente der Menschlichkeit notierte Otto in seinen Kriegserinnerungen, genauso wie den Alltag der Soldaten. So seien die Soldaten völlig ausgehungert im Mai 1945 in endlosen Kolonnen mit unbekanntem Ziel durch die damalige Tschechei marschiert. Er schreibt: „In dem Ort Iglau bekamen wir in Gruppen von je hundert Mann endlich einen Schlag dicke Suppe, ein Stück Brot und einige Würfel Zucker – das war‘s dann auch schon. Dafür mussten wir 13 Stunden anstehen.“

    In einem weiteren Passus ist von unerträglicher Hitze die Rede. Im Sommer 1942 legten die Soldaten lange Strecken zu Fuß in Richtung Stalingrad (Oskol-Tschir) zurück. Der Alltag war von langen Märschen geprägt, ohne die Möglichkeit, in einem Dorf Rast zu machen. „Als wir als Truppe einmal in einem Ort ankamen, brauchten wir dringend frisches Wasser. Unverhofft standen russische Frauen mit Wasserkübeln an ihren Häusern und gaben uns Deutschen etwas zu trinken“, so Otto Kleinhenz. „Als ich an der Reihe war, sah mich eine gütige Magd an und sagte sinngemäß übersetzt zu ihrer Nebenfrau: ‚Mensch, der sieht ja schwach aus, er ist ja noch ein Kind! Gebe ihm doch eine Milch‘“. Jene russische Mutter, hält Otto fest, habe dann vor Freude oder aus Mitleid geweint.

    „Du trinkst ja wie ein richtiger Russe“

    Am Ende des Krieges geriet Otto mit seiner Einheit in sowjetische Gefangenschaft. Alle mussten in einer Ziegelei in Wladimir, 200 Kilometer nordöstlich von Moskau, Zwangsarbeit leisten. Lehm, hart wie Leim, sollten sie stechen. „Schneller, schneller“, seien sie von ihren Bewachern angetrieben worden. Eine unbedachte Äußerung hätte den jungen Mann beinahe ins Gefängnis gebracht. Bei einem Wortwechsel mit einem russischen Wachposten war ihm ein „Verdammt“ herausgerutscht. Ein Politoffizier, der davon erfahren hatte, wertete den Vorgang so, als habe der Deutsche die Sowjetarmee verfluchen wollen. Mit gebrochenem Russisch manövrierte sich Otto Kleinhenz aus dieser misslichen Lage. Auch der „herzensgute“ Ziegelei-Direktor Alexej Minerwin hatte sich in dieser schwierigen Situation als Vermittler eingeschaltet: „Nur ein Pfingstwunder hat mich da am Ende meiner Gefangenschaft in Russland vor Schlimmerem bewahrt“, notierte Otto Kleinhenz später. Kurz vor seiner Entlassung ließ Minerwin für die Gefangenen drei Liter Wodka bringen. Anerkennend sagte er: „Klein- genz (in Russland wird das „h“ zum „g“), du trinkst ja wie ein richtiger Russe.“

    1949 durfte Otto Kleinhenz endlich nach Hause reisen. Er war der letzte heimkehrende Kriegssoldat in Kleinbardorf und hatte sich geschworen, den Osten nie wieder zu besuchen. Doch 47 Jahre später überwand sich der Unterfranke. Mit einer Reisegesellschaft reiste Otto Kleinhenz nach Leningrad, Moskau, Wladimir und Susdal − alles Orte, die er als Soldat gesehen hatte. In Wladimir konnte er zu seinem Erstaunen „seine“ Ziegelei, das Arbeitslager der Gefangenen, wiederfinden und auch den ehemaligen Direktor Minerwin ausfindig machen. Er war inzwischen 88 Jahre alt. Beiden standen beim Wiedersehen die Tränen in den Augen. Zwei Stunden tauschten sie Erinnerungen aus. Zu wenig, um alles loszuwerden, aber Zeit genug, die Verbundenheit aufleben zu lassen. Otto Kleinhenz: „Ich war sehr glücklich, meinen ehemaligen Vorgesetzten bei meiner Rückkehr nach Russland noch einmal anzutreffen.“

    Otto hielt nach Alexej Minerwins Tod weiterhin Kontakt zu dessen Tochter. Über das Rathaus der Stadt Erlangen, die eine Partnerschaft mit Wladimir pflegte, schickte er Pakete. Erlangen hatte mit der Partnerschaft ein Zeichen für Versöhnung und Verständigung zwischen Deutschland und der Sowjetunion gesetzt. Dafür gab es für die Stadt mehrfach Auszeichnungen. Überraschend kam 2008 der Enkel des Ziegelei-Direktors, Alexej Dobrynin, in die Rhön nach Bischofsheim, um sich für die großzügige Freundschaft persönlich zu bedanken.

    Aktuelle Bedeutung

    Als Otto 2014 mit 91 Jahren verstarb, kam ein Nachruf von Alexej Dobrynin: „Otto Kleinhenz war ein Schutzengel für unsere Familie. In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg war er mit meinem Großvater, dem Direktor des Ziegelwerks Wladimir, befreundet, als er dort als Gefangener arbeitete. In den für unser Land so schweren Jahren des Umbruchs half er unserer Familie materiell und tauschte Briefe mit meiner Mutter aus, der Tochter von Alexej Minerwin. Seine Briefe spendeten uns Hoffnung und Trost. Ein gutes Herz. Eine großzügige Seele!“ Und er fügte noch hinzu: „... wenn es die Politiker nicht vermögen, gut nachbarschaftliche Verbindungen zu schaffen, eilen ihnen einfache Menschen zur Hilfe“.

    Otto Kleinhenz lebte die Versöhnung. Die unscheinbare Fatima-Grotte bekommt angesichts des Krieges in der Ukraine eine ungewollt aktuelle Bedeutung: Sie erinnert nicht mehr nur an das Schicksal von fünf Brüdern, sondern mahnt auch zum Frieden.     

    Josef Kleinhenz (Neffe von Otto Kleinhenz)