"Lebe das Wenige, das du vom Evangelium verstanden hast.“ Frère Roger, Begründer des ökumenischen Gemeinschaft von Taizé, hat diese Widmung dem von Ulrich Boom handgeschriebenen Evangeliar vorangestellt. Boom hatte das Buch, das bei seiner Bischofsweihe am 25. Januar in der Liturgie verwendet wird, als Theologiestudent und auch noch als Praktikant in St. Peter und Paul in Schweinfurt gefertigt.
„So wie man die Komplet am Abend betet, habe ich immer abends an dem Evangeliar gearbeitet“, sagt der künftige Weihbischof. Das mit acht großformatigen Bildern und zahlreichen Initialen versehene Werk, hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Vor 24 Jahren ging es verloren und tauchte erst Jahre später auf wundersame Weise wieder auf – bei einem Autokauf. Es ist das Jahr 1985, ein bitterkalter Februartag. Ulrich Boom hat seinem Mitbruder Thomas Hermes aus Zell am Main das handgeschriebene Evangeliar für dessen Primizfeier in der Kirche der Oberzeller Schwestern ausgeliehen. „Das Buch war dort in der Liturgie eingesetzt“, erinnert sich Boom. „Anschließend wurde im Kloster gefeiert.“ Thomas Hermes muss das Evangeliar nach dem Festschmaus noch in sein Auto gelegt haben, um es tags darauf Boom, der nur ein Jahr vor ihm zum Priester geweiht worden ist, vorbeizubringen. Doch dies unterbleibt – aus welchen Gründen auch immer. Wenige Tage später verkauft Hermes seinen alten Wagen bei einem Autohändler. Ab da verwischt sich jegliche Spur. „Das Evangeliar war auf einmal weg“, berichtet Boom. „Dem Thomas hat das sehr wehgetan. Ich weiß nicht, ob er zeitweise sogar traumatisiert war“, vermutet der künftige Weihbischof. Andere hätten sich den Verlust des Evangeliars wohl mehr zu Herzen genommen als Kaplan Ulrich Boom, wären vielleicht aus der Haut gefahren. Doch der Münsterländer reagiert moderat und vor allem, er verzagt nicht: „Ich habe das damals verhältnismäßig wenig tragisch genommen.“ Obgleich er, wie er sagt, das Buch sogar von der Polizei suchen lässt. Jahre später macht sich der künstlerisch ambitionierte Boom – er hat auch einige Semester Kunstgeschichte in München studiert – wieder an die Arbeit an einem neuen, handgeschriebenen Evangeliar. In einer ganz gleichmäßigen Schönschrift („Das ist meine ordentliche Alltagsschrift“) bringt er mit Tusche die vier Evangelien wieder zu Papier. „Nur für die Bilder, da hatte ich keine Zeit mehr“, sagt Boom. „Es existiert heute noch ein Block mit den vier Evangelisten, unvollendet, wie das Leben so ist, eben unvollendet.“ Nun nimmt das Schicksal seinen Lauf. An einem Silvesterabend in den 90er Jahren, Boom ist mittlerweile Pfarrer in der Spessartgemeinde Frammersbach, erhält er einen Anruf aus Rottenbauer von seinem Mitbruder Christian Müssig. Der erzählt ihm von einem Autokauf, und dass der Händler ihm ein Buch mit den Worten angeboten habe: „Das muss wohl was Frommes sein.“ Müssig erklärt Boom, es handele sich um ein handgeschriebenes Evangeliar mit einem Holzdeckel. Dieses Buch habe der Händler ihm bei der Preisverhandlung sozusagen noch als Dreingabe draufgelegt.
In einer Silvesternacht ...
Boom ist hellwach. „Ich bin noch in der Silvesternacht in Richtung Rottenbauer gefahren“, erzählt der „Evangelienschreiber“. Und in jener Nacht lichtet sich nach Jahren endlich das ganze Mysterium vom Verschwinden des Buchs: Booms Mitbruder Thomas Hermes muss beim Autoverkauf das Evangeliar – gut verstaut in einem speziell für das Buch angefertigten Leinensack – zunachst auf den Tresen und dann irgendwann unter den Tresen gelegt haben. Dort habe er dann das Evangeliar stehenlassen. Und der Autohändler? Der nimmt das Buch an sich und bewahrt das „Fromme“ bei sich auf – bis mal wieder ein Priester als Kunde bei ihm aufkreuzt.
Bischof Paul-Werner, seit über 30 Jahren freundschaftlich mit dem Münsterländer verbunden, kommentiert den Vorfall nach dem glücklichen Ende damals kurz und bündig: „Das ist der Anfang einer Predigt, man muss nur noch den Schluss kriegen.“ So nimmt der 61-jährige künftige Weihbischof damalige die Anregung von Bischof Paul-Werner auf und setzt mit einer symbolhaften Betrachtung einen Schlusspunkt unter die Geschichte. Das Verschwinden und Wiederauftauchen des Evangeliums sei „eine schöne Geschichte, die auch einen Sinn ergibt“, sagt Ulrich Boom: „Dass ein Evangelium im Geschäft der Welt verloren gehen kann, dass wir es aber auch im Geschäft der Welt wiederfinden können. Ich denke, Gott kommt ja nicht nur aus dem Raum der Kirchen auf die Menschen zu. Sein gutes Wort ist ja eigentlich schon überall da. Es geht in der Regel nur noch darum, dass wir, in welchem Dienst wir auch immer in der Kirche stehen, den Menschen das Wort Gottes erschließen. Und mit den Schlüsseln, den Schlüsselbegriffen vom Reich Gottes, Erlösung und Heil, schließen wir sozusagen auf, was Gott uns schon seit ewigen Zeiten herschenken will."