Warum sich das Mainfranken Theater für St. Andreas als Spielstätte entschieden hat, erklärt Barbara Bily, die neue Schauspieldirektorin des Hauses. Seit 2018 wird das Theater generalsaniert. Deswegen sind die vier Sparten Oper, Ballett, Schauspiel und Konzert „ausgelagert“ – oder „obdachlos“, wie es Bily scherzhaft nennt. Auf der Suche nach einem geeigneten Ausweichquartier haben sie und ihr Team 40 Kirchen in Würzburg besucht und geprüft, ob die Gebäude für die „besondere Spielsituation“ geeignet sind.
Die Wahl fiel auf St. Andreas. Dort sei im Innern baulich „fast eine Arena-Situation“ gegeben, so Bily. Der Kirchenraum habe sofort auf sie gewirkt, berichtet die Schauspieldirektorin, die für die Dramaturgie des Brecht-Stücks verantwortlich zeichnet. Tatsächlich ist St. Andreas mit seinen modernen Formen, dem vielen Sichtbeton und dem pyramidenhaften Dach schon von außen ein beeindruckender Bau. Die Kirche wurde nach Plänen des Architekten Lothar Schlör in den 60er Jahren erbaut und 1968 geweiht. Auch im quadratischen Innern des Gotteshauses dominiert der Sichtbeton unter dem markanten Pyramidendach.
Guter Ton
„In diesem mächtigen Bau ist viel vorstellbar“, sagt Bily. Begeistert ist sie vor allem von der guten Akustik und dem geringen Nachhall, die sich bei einem Besuch des Ensembles vor Ort und einer Sprechprobe in der Kirche gezeigt habe. Das sei in anderen Würzburger Kirchen so nicht gegeben – und somit sei die Entscheidung für St. Andreas als Spielort gefallen. Neben der Vernetzung von Kultur und Kirche findet es Schauspieldirektorin Bily auch „toll, dass man da spielt, wo die Menschen wohnen.“ St. Andreas ist eingebettet in den Stadtteil Sanderau. Die Kirche umgeben zahlreiche Mehrfamilienhäuser.
Das Gotteshaus gehört zur „Pfarreiengemeinschaft Sanderau“. Pfarrer Gerhard Reitz war „überrascht und erfreut“, wie er sagt, als ihn das Mainfranken Theater wegen einer mögliche Kooperation angesprochen hat. „Und natürlich gespannt, wie es sein wird“, fügt er hinzu. Dass Schauspieler ein Gotteshaus als Theaterbühne nutzen, ist schließlich nicht alltäglich. Die Absprachen mit den Verantwortlichen seien von Anfang an sehr vertrauensvoll und gut abgestimmt gewesen, berichtet Reitz.
Chance und Gewinn
Doch habe die Corona-Pandemie das Projekt erschwert. Die Proben mussten immer wieder unterbrochen werden. Etwas Anderes war für den Pfarrer hingegen kein Problem: mit „Der kaukasische Kreidekreis“ ein Stück des bekennenden Atheisten Bertolt Brecht im Gotteshaus seiner Gemeinde aufführen zu lassen. „Immerhin, so heißt es, war die Bibel seine Lieblingslektüre“, sagt Reitz.
„Brecht regt zu einer Auseinandersetzung mit dem an, was und woran wir als Christ:innen glauben. Hier liegen für mich und für uns in der Pfarreiengemeinschaft Chance und Gewinn.“ Heute seien viele Menschen auf der Suche nach einem tragfähigen Sinn und einem Halt. Impulse von Brecht könnten da zum Nachdenken führen.
Biblisches Thema
Zwischen Brechts „Kaukasischem Kreidekreis“ und der Lehre der katholischen Kirche gebe es durchaus Gemeinsamkeiten. Denn gerade in diesem Stück greife der berühmte Dramatiker ein biblisches Thema auf, so der Pfarrer: „In dem Streit der vorgeblichen Mutter und der wirklichen Mutter um das Kind thematisiert Brecht die Liebe und den Schutz, die Kleinen und Schwachen zuteil werden müssen.“ Die Pflegemutter, das Küchenmädchen Grusche, lässt das Kind im Wettstreit der beiden Mütter los, weil sie sein Leben bewahren und schützen will – und zeigt sich als wahre Mutter.
Ähnlich offen wie er selbst habe auch seine Gemeinde auf das Kooperationsprojekt reagiert, berichtet der Pfarrer. „Natürlich habe ich die Verantwortlichen vor einer Zusage gefragt“, sagt er. Kirchenverwaltung und Pfarrgemeinderatsvorsitzende hätten „intensiv diskutiert und dem Projekt gerne zugestimmt.“ Auch der Hausmeister sei beim ersten Treffen dabei gewesen und unterstütze das Projekt durch sein Know-how. Kaum einer kennt das Kirchengebäude schließlich so gut wie er.
Große Fragen der Menschheit
So ging Bily mit ihrem Team an die Arbeit. Aus Sicht der Schauspieldirektorin wirft Brecht die „großen Fragen der Menschheit“ auf. „Der kaukasische Kreidekreis“ thematisiere: „Wem gehört etwas? Wie verhält sich Macht? Wie entstehen Hybris, Gier und Eifersucht? Wer ist die wahre Mutter?“ Die Aufführung will Empathie für die Figuren wecken. Das Publikum solle sich denken: „Hoffentlich geht das gut aus“, so Bily.
Anders als von Autor Bertolt Brecht beabsichtig, verzichtet die Aufführung des Mainfranken Theaters in St. Andreas auf den von ihm vorgesehenen Verfremdungseffekt, der Distanz zwischen dem Publikum und dem Drama auf der Bühne schaffen und so zum Nachdenken anregen soll. Stattdessen führt der Schauspieler Georg Zeies als Sänger und Erzähler durch das Theaterstück.
Kirchenraum
Zeies fühlt sich in dem Sakralraum wohl: „Ich bin froh, dass die St.-Andreas-Kirche der Spielort ist“, sagt er. „Die Modernität und der Bau haben mich sofort fasziniert, gerade die Mischung aus erschlagender Schlichtheit, sakraler Aura und pyramidenhaftem Raum sind beeindruckend.“ Er sei nicht sicher, ob das Projekt in einem anderen sakralen Raum möglich wäre. Da Brecht oft mit christlichen Motiven gearbeitet habe und im „Kreidekreis“ das Kernthema aus dem Alten Testament stamme – wer sich in der Bibel auskennt denkt an das Urteil Salomos (1 Kön 3,16–28) –, unterstütze der Kirchenraum das Theatererlebnis.
„Für mich als ehemaliger Messdiener ist es eine tolle Erfahrung, in einem Kirchenraum zu spielen“, berichtet der Schauspieler. „Auch wenn wir als Ensemble deutlich spüren, was es für zusätzliche Kraft fordert – stimmlich und körperlich – diesen Raum auszufüllen.“ Es gebe kein Reinkommen, man müsse sofort mit allem präsent sein, erklärt Zeies.
Im Dialog
Die intensive Probenarbeit des Schauspielensembles, das sich trotz Coronaeinschränkungen nicht entmutigen ließ, hat sich gelohnt. Pfarrer Reitz berichtet: „Nach der Premiere habe ich sehr positive Reaktionen gehört“. Mitglieder der Pfarreiengemeinschaft hätten „große Begeisterung“ gezeigt.
Eine weitere Kooperation, über das aktuelle Stück hinaus, könne er sich durchaus vorstellen: „Gerade dieser Kirchenraum bietet sich dafür an.“ Die Dramaturgin und überhaupt alle Theaterleute seien sehr sorgsam mit dem Kirchenraum umgegangen und hätten immer nachgefragt, was möglich sei. „Sie wollten – so habe ich es wahrgenommen – keine religiösen Gefühle verletzen“, sagt Pfarrer Reitz. „Die Öffnung unserer Kirche und von uns als Pfarreiengemeinschaft für eine solche Aufführung zeigt doch, dass wir gerne den Dialog mit der Gesellschaft, als Teil dieser Gesellschaft, aufnehmen und führen.“
Stefan W. Römmelt/hela
Weitere Aufführungen sind für den 15./17./18./19. und 26. März geplant, Beginn jeweils um 20 Uhr in der St.-Andreas-Kirche (Breslauer Str. 24, 97072 Würzburg); Tickets (25 €): „www.mainfrankentheater.de“ oder Telefon 0931/3908-124.