Den Kern der Stadt, die in den letzten Jahrzehnten um einige Vororte und Dörfer erweitert wurde, bildet die kreisförmig angelegte historische Altstadt, die früher von Wällen und Gräben umgeben war und im Jahr 1966 umfassend saniert wurde. Je mehr wir uns ihr nähern, umso mehr nehmen auch die Lichter und Lämpchen in den Häusern der umliegenden Straßen zu, die bereits auf den Martinszug hinweisen. Überall in den Fenstern der oft altehrwürdigen Häuser leuchten sie in der einsetzenden Dunkelheit und verbreiten eine zauberhafte Atmosphäre. Auch draußen sind an etlichen Häusern Lämpchen angebracht, mehrfach sind auch Martinslaternen in den Wohnstuben zu entdecken, und in einem Fenster steht eine prächtig erleuchtete Gans. Vorbei an der von 1396 bis 1400 vom damaligen Kölner Erzbischof erbauten kurkölnischen Landesburg mit ihren drei markanten Türmen gehen wir durch ein „Tor“ aus Regenbogenlichtern weiter in die Innenstadt und suchen uns am einzigen erhaltenen Stadttor, dem Kuhtor, einen Platz, von dem aus wir gut den Zug beobachten können. Musik kündigt bereits an: Der Martinszug nähert sich.
Verbunden zur Tradition
Wie kommt es überhaupt dazu, dass gerade Kempen solch eine besondere Beziehung zum heiligen Martin entwickelt hat? „Diese Frage wird uns immer wieder gestellt und bereitet uns gewisse Probleme“, erklärt der Vorsitzende des Kempener Sankt-Martin-Vereins, der den Zug organisiert und finanziert, auf Nachfrage. „In den Schulen gab es immer schon viele Lehrkräfte, die das Anliegen unterstützt haben. Und je mehr Begeisterung sich in der Bürgerschaft und an den Schulen breit machte, umso schöner wurde der Zug und umso mehr Zuschauer bekam er.“ Die Entwicklung sei gleichsam spiralförmig nach oben gegangen – mit dem Ergebnis, dass die Kempener heutzutage als besonders Martins-Begeisterte gelten würden. „Wie sehr sich alle mit der Tradition verbunden fühlen, das hat sich im Jahr 2020 gezeigt, als der Zug zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ausfiel“, berichtet Hamm. „Selbst damals waren die Häuser der Stadt komplett erleuchtet und verbreiteten Martinsstimmung in der Corona-Zeit.“
Feuerrote Lichter am Beginn der „Prozession“ kündigen an: Dort kommt der Martinszug von Kempen. Die erste von insgesamt elf Kapellen zieht vorüber. Schon bald wird klar: Hier werden nicht nur allgemein bekannte Martinslieder wie „Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind“ oder „Ich geh mit meiner Laterne“ angestimmt, sondern auch stark mundartlich gefärbte aus der Region wie „Zint Mäerte“ und neuere Titel wie „Durch die Straßen auf und nieder“ oder „Ein armer Mann“. Vor allem aber sind es die vielen Schulklassen mit ihren selbstgebastelten Laternen und Fackeln, die den Kempener Martinszug prägen. Es sind nahezu ausnahmslos kleine Kunstwerke. Da gibt es einen ganzen Zirkus mit vielen verschiedenen Tieren, der in Laternenform auftaucht, prachtvolle Lichter-Häuser, die schon von weitem zu sehen sind, oder liebevoll gemalte menschliche Gesichter. Auch größere, aus Film und Fernsehen bekannte Figuren oder ein Dinosaurier sind zu bestaunen. Die Laternen, die alle mit viel Liebe und Einsatz in wochenlanger Kleinarbeit angefertigt worden sind, werden von den dicht gedrängt am Rand des Zuges stehenden Zuschauern mit viel Applaus bedacht.
Ein echter Martin
Jedes Jahr sind es über 2000 Schulkinder, die durch die Straßen Kempens ziehen, und am Wegesrand werden regelmäßig zwischen 20000 und 30000 Besucher aus Nah und Fern gezählt. Der heilige Martin ist es, der sie alle in seinen Bann zieht: In Kempen ist er ganz klassisch als römischer Soldat mit rotem Samtmantel und goldenem Helm gekleidet und sitzt auf einem Schimmel. Begleitet wird Franz-Josef (Jüppi) Trienekens, der den Martin 2023 zum 20. Mal verkörpert, von zwei städtischen Herolden. Dass der Heilige von einer Frau dargestellt wird, wie es mittlerweile in vielen Orten üblich ist, wäre in Kempen noch undenkbar. „Das kann ich mir schwer vorstellen, und zudem halte ich es auch unbedingt für erforderlich, dass er als Soldat und nicht zum Beispiel als Bischof gekleidet ist, denn bei der Mantelteilung war der heilige Martin ja römischer Soldat“, unterstreicht Vereinsvorsitzender Rainer Hamm. Laut der alten Chronik sei der helige Martin schon vor dem Zweiten Weltkrieg von zwei Herolden begleitet worden. Ganz am Anfang aber sei er sogar zu Fuß gegangen.
Traditions-Kracher
Inzwischen sind alle Gruppen um die Burg herumgezogen. Auf einmal kommt der ganze, lange Zug zum Stehen und wartet auf das traditionelle Feuerwerk. Ein Feuerwerk an Sankt Martin? Auch das ist höchst ungewöhnlich. „Laut unserer Chronik gibt es dieses Feuerwerk schon ganz lange“, klärt Rainer Hamm auf. „Bereits spätestens 1911 wurde es von den Türmen der Burg abgebrannt.“ Da es sich um kein Feuerwerk handle, das sich mit dem Silvester-Feuerwerk messen könne, seien sich alle Kempener nach wie vor einig, dass diese Tradition beibehalten werden solle. Sobald das Feuerwerk zu Ende ist, setzt der Zug sich wieder in Bewegung, und alle Kinder streben dem abschließenden Höhepunkt zu: Sie strömen in das Rathaus und nehmen dort ihre Martinstüten mit süßen Leckereien, in Kempen „Bloese“ genannt, in Empfang. Freudestrahlend kommen sie aus dem Rathaus heraus und ziehen auf dem Buttermarkt an Sankt Martin und seinen beiden Herolden vorbei, die gleichsam die Parade abnehmen. Das Erstaunliche: Es gibt zwar ein Martinsfeuer, das alle bewundern, aber keine Bettlerszene mit Mantelteilung. Rainer Hamm hat auch dafür eine Erklärung parat: „Der Martinszug ist dafür ganz einfach zu groß. Nicht alle könnten die Mantelteilung sehen. Deshalb verzichten wir darauf.“ Einen Tag zuvor allerdings, beim Zug der Kindergartenkinder, der sich seit 25 Jahren zusätzlich etabliert hat, ist die Bettlerszene mit der Mantelteilung gespielt worden – insgesamt fünfmal, damit alle Kinder sie auch miterleben konnten.
Der offizielle Martinszug ist zu Ende, aber in den beschaulichen Altstadtgassen stehen viele Besucher noch bei Püfferkes, einer süßen, knusprig braun gebackenen Kempener Spezialität, und Glühwein zusammen und lassen den Tag ausklingen. Und während des Heimwegs klingt von irgendwoher noch ein letztes „Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind“ durch die Nacht.
Gerd Felder