Erschreckend zugenommen hat die Zahl derer, die diesen Schritt tun oder zumindest in Erwägung ziehen, obwohl ihnen der Glaube wichtig ist und sie sich oft über viele Jahre aus diesem Glauben heraus in der Kirche engagiert haben. Da sind einerseits Schmerz und Enttäuschung, die sie mit dieser Kirche verbinden, und da ist andererseits eine freie Gesellschaft mit einem bunten Markt von – auch christlichen – Sinnstiftungsangeboten, auf dem die Kirche nur noch ein Anbieter unter anderen ist; einer zudem, dessen Ruf ziemlich ramponiert ist.
Kein Wunder, dass da auch immer mehr Christen zu der Überzeugung gelangen, ein Leben im Sinne Jesu auch ohne Kirche führen zu können; vielleicht sogar zu sollen, weil sie die Institution Kirche für die Vermittlung der christlichen Botschaft eher hinderlich als dienlich erleben. Daran werden wohl auch noch so klug erdachte Pastoralkonzepte und selbst mutige Reformschritte – so sie überhaupt kommen – wenig ändern können.
Im Interview auf Seite 8 in der aktuellen Sonntagsblatt-Ausgabe nennt Pater Anselm Grün den spirituellen Reichtum der kirchlichen Tradition als entscheidendes Element, das ihn an die Kirche bindet. Und er selbst ist das beste Beispiel dafür, wie man Menschen – ob nun kirchlich gebunden oder nicht – ansprechen und ihnen helfen kann, wenn man diesen Schatz hebt und einsetzt. Denn in dieser Hinsicht besitzt die Kirche fürwahr einen Schatz. Mit ihrer über Jahrhunderte gewachsenen spirituellen und mystischen Tradition kann sie jedem „Mitbewerber“ das Wasser reichen. Hat man diesen Schatz vielleicht zu sehr vernachlässigt oder institutionell domestiziert und damit seiner Wirkung beraubt? Mit diesem Pfund zu wuchern, Spiritualität und Mystik wieder in den Vordergrund zu rücken, kann eine Zukunftsperspektive für die Kirche sein.
Wolfgang Bullin