Evangelium
In jener Zeit, als Jesus mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho verließ, saß an der Straße ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Und Jesus fragte ihn: Was soll ich dir tun? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen. Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg.
Markus 10,46–52
Sehen, und gesehen werden. Ob in Cannes, bei einer Vernissage oder zusammen mit dem Heiligen Vater. Sehen und gesehen werden ist heute sehr wichtig geworden. Manch einer meint sogar, es ist das allerwichtigste, wenn es gilt als einzelner oder als Kirche heute bestehen zu können.
Joseph Kardinal Cardijn, der Gründer der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ), entwickelte mit und für seine Jugendlichen die Methode: „Sehen – Urteilen – Handeln“. Damit versetzte er sie in die Lage, sich selbstständig und bewusst mit sich und ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen auseinanderzusetzen. Denn die Erfahrung lehrte Cardijn, dass nur der, der sich Zeit und Mühe macht genau hinzusehen, was sein Leben eigentlich bestimmt, durch die Frohe Botschaft Jesu orientiert zu einem guten Handeln findet und so sein Lebensumfeld bewusst und aktiv mitgestaltet. Er oder sie übernimmt so mehr und mehr die Verantwortung für sich und seine Umgebung. Und dies ist eine Haltung, die bei der Suche des eigenen Vorteils oder im Run um das beste Schnäppchen heute leicht auf der Strecke bleibt.
Papst Johannes XXIII. hat Cardijns Art, sich und seine Lebenswirklichkeit genau zu betrachten und zu analysieren in seiner Enzyklika „Mater et Magistra“ der ganzen Kirche ans Herz gelegt. Dabei ist für ihn wichtig, dass die Wahrnehmung der Lebensumstände, der eigenen wie die der uns anvertrauten Menschen, erste Priorität hat. Erst dann darf eine aus christlicher Überzeugung dem Evangelium gemäße Bewertung erfolgen. Beides zusammen führt zu einem angemessen Handeln, dessen Wirkung wiederum in den Blick genommen wird, so dass dieser Prozess wieder von vorne beginnt.
Ums Sehen geht es auch im heutigen Evangelium. Der Blindenheilung in Jericho am Ende seines Weges von Galiläa nach Jerusalem, entspricht bei Markus „die Heilung eines Blinden bei Betsaida“ an dessen Anfang. Zwischen diesen beiden Heilungserzählungen spricht Jesus dreimal an, dass er nach Jerusalem gehen und dort leiden und sterben wird. Der glorreichen Botschaft mit ihren erfolgreichen Wundern, die Jesus als herausragenden Wanderprediger und Propheten auszeichnen, folgt nun der Abstieg bis ins Leiden hinunter. Dienen und Hingabe stellt er nun in die Mitte. Mit ganz anderen, für seine Jüngerinnen und Jünger damals wie heute sehr schwer annehmbaren Forderungen leitet Jesus ein Umdenken ein, das für sie und uns nur schwer eingesehen wird. Ihm geht es um „den letzten Platz“ und darum, dass Verzicht auf Privilegien besser ist, als ein selbstherrliches, mediengerechtes Auftreten.
Für ihn ist wichtiger, dass sich der Einzelne in dienender Hingabe für den anderen und für die Gemeinschaft einbringt, als dass er auf seine Rechte pochend, andere benutzt, um sich selbst in den Vordergrund zu spielen.
Das, was heute verlangt wird, nämlich sich von seiner besten Seite zu zeigen, mit dem anzugeben, was man oder frau zu bieten hat, oder im Konkurrenzkampf in der Arbeitswelt andere schlecht zu machen: All das wird von Jesus hinterfragt, kritisiert und letztlich durch sein eigenes Lebenszeugnis abgelehnt. Für ihn ist der ausgegrenzte Bartimäus am Wegrand wichtiger, als die vielen, die ihn zujubeln und Beifall klatschen, als die Wohlangesehenen, die sich nur selbst in seinem Lichte sonnen wollen.
Jesus, der ihre Blindheit bemerkt, versetzt sie in die Lage, ihren Blickwinkel zu ändern, sich dem armen Tropf zuzuwenden, ihn zu ermutigen und zu Jesus zu bringen. Jesus lädt sie ein, mitzuhelfen, damit der Blinde zu ihn kommen kann. Er zeigt ihnen so, dass achtsamer Umgang miteinander, sensible Wahrnehmung derer, die mitten uns leiden und ermutigende Gemeinschaft mit ihnen, Schritte aus dem Dunkel des Egoismus heraus sind, die den Betroffenen gut tun und uns verändern, wandeln, sehend machen.
Sie, die Menschenmenge, sowie die Jüngerinnen und Jünger Jesu damals, die für den blinden Bartimäus zum Du geworden sind, ihn beigestanden und ermutigt haben, haben ihre Lektion verstanden. Ihre Blindheit wurde von Jesus geheilt.
Pfarrer Nikolaus Hegler ist Diözesanpräses der KAB.