Seit fast 30 Jahren lebt Maria Anna Leenen mit neun Ziegen, zwei Katzen und einem Hund in der Einsamkeit. Genauer gesagt in der Klause St. Anna, etwa 40 Kilometer nördlich von Osnabrück und von Feldern, Wiesen und Wäldern umgeben. Für die 66-jährige Osnabrückerin „gibt es kein schöneres Leben“, doch dass es eines Tages so kommen würde, war keineswegs absehbar. Evangelisch-lutherisch getauft, spielte die Kirche zunächst keine Rolle für Leenen. Bis sie Mitte der 1980er Jahre bei einem Aufenthalt in Venezuela „Knall auf Fall“ ein Bekehrungserlebnis hatte: „Ein Satz in einem Buch über Medjugorje hat plötzlich mein Leben verändert“, erzählt sie. „Mir wurde schlagartig klar: Ich muss mich um diese Jesusbeziehung kümmern!“ Leenen wurde katholisch, und der Wunsch, dies „intensiv und ausschließlich zu leben“, wurde immer stärker. Nach Versuchen in verschiedenen Gemeinschaften wagte sie schließlich den Schritt in die Einsamkeit, zog sich in eine Hütte zurück und spürte sofort: „Das ist mein Weg!“
Beziehung zu Christus
1994 unterstellte sich Leenen als Diözesaneremitin dem Bischof von Osnabrück. Vor ihm legte sie die Gelübde Armut, Keuschheit und Gehorsam ab – zunächst für eine bestimmte Zeit, 2003 schließlich für immer. 2004 bezog sie ein altes Heuerhaus, das seit 2016 einem eigens gegründeten Förderverein gehört. Mit Spendengeldern hilft der Verein, die notwendigsten Sanierungsarbeiten an der Klause St. Anna zu finanzieren. Für ihren Lebensunterhalt sorgt Leenen selbst – mit Büchern, Vorträgen und ihrem Gemüsegarten.
Die große Chance des Eremitendaseins ist für sie, „immer tiefer in die Beziehung zu Christus hineinzuwachsen, zu spüren, dass er nicht nur irgendwo, sondern in mir ist und mit mir eine Beziehung hat. Ich gehöre ihm und ich weiß, dass er in mir lebt“, sagt Maria Anna. Zugleich stehe aber auch sie immer wieder vor der großen Herausforderung zu begreifen, dass Gott eben Gott und unergründlich ist. „Dann sitze ich beim Lesen von Nachrichten aus der Ukraine vor dem Rechner und weine, weil ich das nicht verstehe.“
Naturnahes Leben
Das Leben in und mit der Natur, mit einem Holzofen und Wasser aus dem Brunnen bedeutet harte Arbeit. Die Einsiedlerin baut Gemüse an, versorgt ihre Tiere, muss Starkregen und Frost aushalten. Und doch lebt sie „nach ihrer Bestimmung“. „Ich genieße es, ohne Ende draußen zu sein und würde um nichts in der Welt tauschen gegen eine gut geheizte Wohnung in der Stadt“, sagt sie.
Das, was sie täglich umgibt, wie die Natur keimt, wächst, reift und vergeht, bringt Leenen ihren Lesern in ihrem Buch „Fülle“ nahe. Mit einfachen, präzisen Worten, die voll poetischer Kraft sind, schreibt sie über Fadenwürmer und Winterlinge, Zypressenschlafmoos und Gartenrotschwanz, Mäusebussard und Stieleiche, aber auch über Photosynthese, Artensterben und Treibhausemissionen. „In der Oberfläche eines nackten kahlen Fleckchens dieser Erde, die gerade noch so tot, so ohne Leben erschien, sind feine Risse, es schiebt sich etwas hoch, zierliche Spitzen in Hellgrün, in deren Mittelpunkt sich die lavendelfarbige Lanze eines Frühlingskrokus emporhebt. Oder der Blick bleibt an einer flachen Blätterrosette hängen und wundert sich über den grünen Knubbel in der Mitte, der sich langsam zu öffnen beginnt und das zart-rosa Blütengesicht eines Gänseblümchens entfaltet.“
Schöpfungsspiritualität
Das Staunen über die Schönheit der Natur ist Ausdruck einer tiefen Schöpfungsspiritualität. Schöpfung ist für die Eremitin „mehr als Pausenraum und Urlaubskulisse, mehr als Hintergrundbild für Selfie und Schnappschuss. Schöpfung hat für den, der seine Sinne öffnet und öffnen will, einen Aufforderungscharakter“, schreibt sie und bezeichnet Schöpfungsmeditation als „eine Art Spiegel, der mich selbst und mein Leben auf manchmal verblüffende Weise reflektiert und vieles zurückspiegelt“.
Das Rezept dafür ist ganz einfach: „Sich hinsetzen, still werden, ohne Ablenkung ganz genau hinschauen, tasten, beschreiben, wie klein die Pollen einer Blüte, wie zart die Poren eines Laubblattes sind. Das geht auch mit dem Blumenstrauß vom Geburtstag.“ Das genaue Hinschauen löse Freude aus, sagt Leenen, und dann erkenne man Stück für Stück die Zusammenhänge, die Perspektive weitet sich: „Ohne die Natur, den Kreislauf des Lebens können wir nicht leben. Die Schöpfung gibt uns Sauerstoff und Nahrung, sogar auf der ISS. Und der Mensch ist in diese Schöpfung eingebunden, selbst wenn er in Frankfurt Innenstadt lebt.“
Die Folgerung aus dieser Erkenntnis ist sonnenklar: „Wir dürfen die Schöpfung nicht missbrauchen, schänden, belasten!“ Wie dringend dieser Appell ist, weiß Leenen selbst. Weil sie bereits vor Jahren gemerkt hat, dass die Zahl der Wildbienen extrem abgenommen hat, baut sie heute Insektenhotels und Überwinterungshilfen.
Arbeit und Gebet
Der Name Gottes taucht im Buch „Fülle“ nur selten auf. Und doch blickt in jeder Zeile über die Wunder der Schöpfung der Schöpfer durch. „Gott ist immer präsent“, bestätigt Maria Anna, und genau das gilt auch für ihren Alltag, in dem Arbeit und Gebet ständig ineinanderfließen. Zwischen Stallarbeit, Spaziergängen mit dem Hund, PC und kurzen Mahlzeiten betet sie in der winzigen Kapelle das Stundengebet, meditiert, hält Fürbitte. Mit der Ruminatio (lateinisch für „Wiederkäuen“) pflegt sie ein permanentes inneres Gebet. „Der Satz ‚Jesus Christus ist der Herr, zur Ehre Gottes des Vaters‘ ist immer in meinem Kopf und meinem Herzen. Er betet in mir, schwingt bei jedem Atemzug mit.“
Abgehoben und wirklichkeitsfremd? Keineswegs! In der Gegend ist sie „bekannt wie ein bunter Hund“. Regelmäßig kommen Menschen zu ihr, die einen Rat brauchen, und auch per E-Mail und Handy erreicht man die moderne Eremitin schnell. Abnabelung und völlige Einsamkeit seien ein verbreiteter Irrtum, so Leenen: „Seit jeher sind Eremiten intensive Ansprechpartner für geistliche Gespräche oder bei persönlichen Ängsten.“
Nachdenken über Gott und Welt
Wer nicht zur Eremitin reisen kann, sollte sich Leenens Buch zu Gemüte führen und das tun, was die Autorin so faszinierend beschreibt. „Einen großen Baum in Ruhe eine Weile anzuschauen, ihn auf sich wirken zu lassen, fährt den Menschen runter, bringt ihn nach und nach in eine Stimmung, die anderes als sonst zulassen kann“, schreibt Leenen. Und dann? „Wer begreift, dass das alles Geschenk und bewusst geschaffen ist, der fängt an, über sich selbst, die Welt, Gott nachzudenken“, ist Leenen überzeugt. Irgendwann stehe unweigerlich die Frage im Raum: „Was mache ich mit meinem Leben?“ Wenn das geschieht und der Blick auf die Schöpfung eine Tür zum eigenen Ich und zu Gott öffnet, habe ich viel erreicht, so Leenen. „Denn im Grunde ist es ganz leicht.“
Anja Legge
Buch- und Onlinetipp: Maria Anna Leenen, „Fülle. Die schöpferische Kraft der Natur. Weisheiten einer Eremitin“, Bonifatius 2022, 18 Euro, ISBN 978-3-89710-912-4; mehr über die Eremitin erfahren Sie hier: www.maria-anna-leenen.de.