Erst vor kurzem wurde mir eine ganz neue Bedeutung des Sonntagsevangeliums bewusst, die noch radikaler deutlich macht, dass wir zwar unsere Heimat nicht in dieser Welt haben, aber unser Dienst und Auftrag sich nur mitten in dieser Welt bewahrheiten kann.
Evangelium
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden, und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken. Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben. Matthäus 25,31–46 Diese Gerichtsrede begründet, dass Christsein weniger mit frommen Sprüchen oder theatralischem Gehabe einhergeht als vielmehr mit dem gelebten Zeugnis der Nächstenliebe: Der Mensch, der mir begegnet, der Not leidet und meine Hilfe braucht, diesem Menschen muss unbedingt geholfen werden. Nicht nur, weil er ein Mensch mit Würde ist, deren Nichtbeachtung unser eigenes Menschsein beleidigt und beschmutzt, sondern – so jedenfalls die Deutung bei Matthäus –, weil wir im leidenden Menschen Jesus Christus, dem Herrn selbst begegnen. Erst vor kurzem wurde mir eine ganz neue Bedeutung dieser Bibelstelle bewusst, die noch radikaler deutlich macht, dass wir zwar unsere Heimat nicht in dieser Welt haben, aber unser Dienst und Auftrag sich nur mitten in dieser Welt bewahrheiten kann. Es geht darum, dass mit den sieben Werken der leiblichen Barmherzigkeit, die sich aus dem Text ableiten und denen die Tradition der Kirche noch die geistigen an die Seite gestellt hat, eine Option Gottes in Jesus Christus ausgedrückt wird, die bereits auf den ersten Seiten der Bibel ihren Ausgangspunkt nimmt: „Gott liebt diese Welt“ (GL 297). Gott „rief sie ins Leben ... Wohin er uns stellt, sollen wir es zeigen: Gott liebt diese Welt“. Wenn Gott die Welt liebt, wenn sein Sohn ohne Hemmung jedwede religiöse Gebote übertritt, um in seinem barmherzigen Handeln den Armen und Hungernden, den Gedemütigten und Kleingemachten, den an Leib und Seele verwundeten Menschen zu zeigen, dass Gott die Welt, dass Gott seine Schöpfung und seine Geschöpfe liebt, dann bedeutet dies für uns Jüngerinnen und Jünger heute: Dies ebenso zu tun! Damit niemand sagen kann: Was kann ich schon tun?, möchte ich auf Huberta von Voss‘ Sozialreportage hinweisen mit dem Titel: „Arme Kinder, reiches Land“ (Rowohlt Verlag). Darin beschreibt die Autorin ihre Erfahrungen während einer einjährigen Deutschlandreise. Sie sammelt Geschichten von Kindern, denen ihre Kindheit durch Armut genommen wird. Und dies nicht im Süden des Globus, wo uns solche Phänomene bereits hinreichend bekannt sind, und wir diese stillschweigend einfach so hinnehmen, sondern mitten in Europa, in Deutschland, dem reichsten Land des Kontinents: Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan! Viel ist schon gewonnen, wenn wir richtig hinsehen und zuhören! Pfarrer Nikolaus Hegler, Würzburg, ist ab März Pfarrer der Pfarreiengemeinschaft Glattbach–Johannesberg.