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Auf den Spuren des großen Theologen Karl Rahner
Professor Rastlos
Ich habe kein Leben geführt; ich habe gearbeitet, geschrieben, doziert, meine Pflicht zu tun, mein Brot zu verdienen gesucht. Ich habe in dieser üblichen Banalität versucht, Gott zu dienen, fertig.“ Mit diesen lapidaren Worten zog Karl Rahner wenige Monate vor seinem Tod vor 20 Jahren Bilanz. Am 5. März 2004 wäre einer der größten deutschen Theologen des 20. Jahrhunderts, der sich selbst am liebsten als „Dilettanten“ bezeichnete, 100 Jahre alt geworden.
Sein Werkverzeichnis umfasst über 1600 eigenständige Publikationen – vom Vorwort für einen Sammelband bis zur mehrhundertseitigen Monografie. Rahner gilt als Bahnbrecher moderner Theologie und Vordenker des Zweiten Vatikanischen Konzils – doch welcher Mensch steckt hinter den vielen Büchern und schlauen Gedanken? Die Spurensuche führt nach Innsbruck. In der Krypta der Jesuitenkirche am Karl-Rahner-Platz liegt er neben Mitbrüdern begraben, ein kleiner Kranz, ein Porträtfoto und eine Kerze zieren seine schlichte Grablege.
Rahner stammt aus Freiburg, er lehrte in Innsbruck, Wien, München und Münster. In Innsbruck, der malerischen Stadt unter der Nordkette des Karwendel-Gebirges, verbrachte er seine produktivsten Jahre. Von 1937 bis 1939 bis zur Aufhebung des Jesuitenkollegs durch die Nazis und von 1948 bis 1964 lehrte er dort Dogmatik und Dogmengeschichte. 1981 übersiedelte er von München nach Innsbruck und hatte noch gute drei Jahre zu leben.
Nachlass wird in Innsbruck gesichtet
Die Innsbrucker Jesuiten wachen auch über Rahners Nachlass. Ein langer Gang im ersten Stock des Universitätsgebäudes führt zum Karl-Rahner-Archiv: zwei Räume voll gestellt mit Regalen bis kurz unter die hohe Decke, darin Bücher und Pappkisten mit tausenden Manuskriptseiten sowie persönlichen Briefen. Der schwäbische Theologe Roman Siebenrock sichtet und sortiert seit 1985 die Unterlagen. Jahrzehntelang ließ Rahner seine Sachen ungeordnet in Kartons verschwinden. Der Ordensmann hatte an sich selbst praktisch kein Interesse. „Er war und blieb Jesuit – der Rest war ihm wurscht“, sagt Siebenrock. Das macht das Aufarbeiten seiner Hinterlassenschaften nicht gerade einfach. Den vielen mit Archivkürzeln und Jahreszahlen versehenen Kisten ist die zum Teil detektivische Kleinarbeit nicht anzusehen, die in ihnen steckt. Das Material bietet Stoff für etliche Doktorarbeiten.
Kritzeleien und Karikaturen
So sind die 30 Kisten mit über 1100 durchnummerierten Konzilsunterlagen bisher nicht umfassend ausgewertet. Allein bis die auf 32 Bände angelegte Gesamtausgabe vollständig erschienen sein wird, veranschlagt der Archivar noch gut 15 Jahre – „wenn wir schnell sind“. Wer dem Menschen Rahner näher kommen will, muss sich im Archiv gut auskennen. Ein Tagebuch führte er nicht. Über seine Familie verlor er kaum ein Wort. In einem Schrank stehen einige Fotoalben. Ein Klassenfoto zeigt den etwa zehnjährigen Schüler des Freiburger Realgymnasiums: Ernst schaut er aus tiefen Augenhöhlen, die Schulmütze in der Hand; ein Matrosenkragen lugt unter dem karierten Anzug hervor. Auch auf vielen späteren Bildern blickt der Jesuit grüblerisch, fast finster drein. Der angestrengte Blick rührt vielleicht auch daher, dass Rahner seit einer Erkrankung als Kind auf dem linken Ohr fast nichts mehr hörte.
Aber Rahner hatte auch Humor. Davon künden zum Beispiel Kritzeleien und Karikaturen in seinen lateinischen Schulbüchern. Ein Gedicht von Horaz hat er mit einem Torwart verziert, der nach dem Ball hechtet. Ein Vogel sitzt auf der Latte und lässt es ihm auf den Kopf tropfen. Die Zeichnungen lassen einiges Talent erkennen.
950 Beichten in fünf Tagen
In einem Notizbüchlein hielt Rahner nach seiner Priesterweihe akribisch alle seelsorglichen Aktivitäten und Vorträge fest, in akkurater altdeutscher Handschrift. Als Helfer von Pater Rupert Mayer, so eine Notiz von 1932, hörte er in München einmal in fünf Tagen 950 Beichten. Seine Identität als Priester und Jesuit lebte er auf eine unmoderne, selbstverständliche Art. Jeden Tag begann er mit einer stillen Messe. Urlaub im herkömmlichen Sinn war dem Arbeitstier fremd. Während gemeinsamer Ferientage mit Herbert Vorgrimler entstand das berühmte „Kleine Theologische Wörterbuch“ auf einer Schwarzwaldwiese. Zur Konzilszeit brachte es Rahner auf bis zu 400 Veröffentlichungen im Jahr.
Berüchtigt war Rahners Verhältnis zum Auto. Seine eigenen Fahrkünste endeten nach wenigen Metern an einer Garagenwand. Umso ungeduldiger bestand er darauf, mit Höchstgeschwindigkeit durch die Lande kutschiert zu werden, erinnert sich seine letzte Sekretärin Elfriede Oeggl. Rote Ampeln zogen den ungebremsten Zorn des Alemannen auf sich, die Anspannung löste sich erst bei der Auffahrt auf die Autobahn. „So und jetzt lassen wir das Rösslein springen“, sagte er dann und schlummerte bei Tempo 150 ein. Wenn die Fahrerin glaubte, nun etwas vom Gas gehen zu können, wachte er gleich wieder auf, fragte, ob etwas kaputt sei, und fuhrwerkte am Schalthebel herum. „Herr Professor, so geht es nicht, sie wollen vielleicht gleich zum Herrgott in den Himmel, aber ich will heim zu meiner Familie“, sagte Oeggl dann.
Die resolute Sekretärin mit Gesangsausbildung erinnert sich noch gut an ihre erste Begegnung mit dem Pater. Zum Bewerbungsgespräch kam ihr ein kleiner Mann auf der Treppe entgegen, der sofort mütterliche Instinkte in ihr wach rief. Noch vor der Begrüßung musste sie ihm spontan die Schuhe zubinden. Sie bekam den Job. Doch schon beim ersten Diktat warf der Gelehrte aus Wut über eine Unterbrechung den Schlüsselbund nach ihr. Am nächsten Tag lagen zur Entschuldigung zehn Tafeln Schokolade auf Oeggls Schreibtisch. Um den nicht enden wollenden Satzkaskaden mit den vielen ungewohnten Fachbegriffen besser folgen zu können, überredete die Sekretärin ihren Chef, seine museumsreife mechanische Triumph-Adler zu entsorgen, auf der er früher selbst im Zweifinger-Suchsystem getippt hatte. „Bei Anschaffungen war er sehr großzügig“, erinnert sich Oeggl.
Zum Espresso nachmittags nach Trient
Zur vereinbarten dreistündigen Tätigkeit als Schreibkraft kamen bald weitere Aufgaben hinzu.
Oeggl wurde Rahners „guter Geist“. Sie durfte mit Erlaubnis seiner Oberen in die Klausur, brachte sein bis dato völlig schmuckloses Zimmer mit Vorhängen, Teppich, Bildern und frischen Blumen auf Vordermann und kleidete den alten Mann, der sich über einen verlorenen Knopf am Sakko keinerlei Gedanken machte, neu ein. „Dem Karl geht’s aber gut“, bemerkten seine Mitbrüder daraufhin, wohl nicht ganz ohne Neid. Zum Espressotrinken am Nachmittag chauffierte sie den bisweilen von Einsamkeit geplagten Pater auch schon mal bis nach Trient.
Bis zuletzt kraftvoll und mit Leidenschaft
Oeggl empfindet heute noch „grenzenlose Bewunderung“ für Rahner. Ihr imponierte sein fulminantes Gedächtnis und wie er aus fünf bis sechs Worten einen langen Text entwickeln konnte, ohne den Faden zu verlieren. Und dass er bis zuletzt kraftvoll und mit Leidenschaft in vollen Sälen Vorträge hielt, „dass sogar den Männern die Tränen kamen“. Die frühere Notariatsangestellte spürte die Genialität von Rahners Gedanken eher intuitiv, ohne sie völlig zu erfassen. „Dass jeder Mensch, der Gott sucht, auf dem richtigen Weg ist, dass Gott sich ihm zu erkennen gibt“, ist das, was ihr von seiner Theologie am stärksten haften geblieben ist. Die Sekretärin saß auch an Rahners Sterbebett. Nach seinem Tod boten ihr private Fernsehsender viel Geld. Sie erhofften sich Indiskretionen über Rahners angebliche Liebschaft mit der Schriftstellerin Luise Rinser oder andere intime Plaudereien. Sie hat sich diesem Ansinnen strikt verweigert.
Sein Werkverzeichnis umfasst über 1600 eigenständige Publikationen – vom Vorwort für einen Sammelband bis zur mehrhundertseitigen Monografie. Rahner gilt als Bahnbrecher moderner Theologie und Vordenker des Zweiten Vatikanischen Konzils – doch welcher Mensch steckt hinter den vielen Büchern und schlauen Gedanken? Die Spurensuche führt nach Innsbruck. In der Krypta der Jesuitenkirche am Karl-Rahner-Platz liegt er neben Mitbrüdern begraben, ein kleiner Kranz, ein Porträtfoto und eine Kerze zieren seine schlichte Grablege.
Rahner stammt aus Freiburg, er lehrte in Innsbruck, Wien, München und Münster. In Innsbruck, der malerischen Stadt unter der Nordkette des Karwendel-Gebirges, verbrachte er seine produktivsten Jahre. Von 1937 bis 1939 bis zur Aufhebung des Jesuitenkollegs durch die Nazis und von 1948 bis 1964 lehrte er dort Dogmatik und Dogmengeschichte. 1981 übersiedelte er von München nach Innsbruck und hatte noch gute drei Jahre zu leben.
Nachlass wird in Innsbruck gesichtet
Die Innsbrucker Jesuiten wachen auch über Rahners Nachlass. Ein langer Gang im ersten Stock des Universitätsgebäudes führt zum Karl-Rahner-Archiv: zwei Räume voll gestellt mit Regalen bis kurz unter die hohe Decke, darin Bücher und Pappkisten mit tausenden Manuskriptseiten sowie persönlichen Briefen. Der schwäbische Theologe Roman Siebenrock sichtet und sortiert seit 1985 die Unterlagen. Jahrzehntelang ließ Rahner seine Sachen ungeordnet in Kartons verschwinden. Der Ordensmann hatte an sich selbst praktisch kein Interesse. „Er war und blieb Jesuit – der Rest war ihm wurscht“, sagt Siebenrock. Das macht das Aufarbeiten seiner Hinterlassenschaften nicht gerade einfach. Den vielen mit Archivkürzeln und Jahreszahlen versehenen Kisten ist die zum Teil detektivische Kleinarbeit nicht anzusehen, die in ihnen steckt. Das Material bietet Stoff für etliche Doktorarbeiten.
Kritzeleien und Karikaturen
So sind die 30 Kisten mit über 1100 durchnummerierten Konzilsunterlagen bisher nicht umfassend ausgewertet. Allein bis die auf 32 Bände angelegte Gesamtausgabe vollständig erschienen sein wird, veranschlagt der Archivar noch gut 15 Jahre – „wenn wir schnell sind“. Wer dem Menschen Rahner näher kommen will, muss sich im Archiv gut auskennen. Ein Tagebuch führte er nicht. Über seine Familie verlor er kaum ein Wort. In einem Schrank stehen einige Fotoalben. Ein Klassenfoto zeigt den etwa zehnjährigen Schüler des Freiburger Realgymnasiums: Ernst schaut er aus tiefen Augenhöhlen, die Schulmütze in der Hand; ein Matrosenkragen lugt unter dem karierten Anzug hervor. Auch auf vielen späteren Bildern blickt der Jesuit grüblerisch, fast finster drein. Der angestrengte Blick rührt vielleicht auch daher, dass Rahner seit einer Erkrankung als Kind auf dem linken Ohr fast nichts mehr hörte.
Aber Rahner hatte auch Humor. Davon künden zum Beispiel Kritzeleien und Karikaturen in seinen lateinischen Schulbüchern. Ein Gedicht von Horaz hat er mit einem Torwart verziert, der nach dem Ball hechtet. Ein Vogel sitzt auf der Latte und lässt es ihm auf den Kopf tropfen. Die Zeichnungen lassen einiges Talent erkennen.
950 Beichten in fünf Tagen
In einem Notizbüchlein hielt Rahner nach seiner Priesterweihe akribisch alle seelsorglichen Aktivitäten und Vorträge fest, in akkurater altdeutscher Handschrift. Als Helfer von Pater Rupert Mayer, so eine Notiz von 1932, hörte er in München einmal in fünf Tagen 950 Beichten. Seine Identität als Priester und Jesuit lebte er auf eine unmoderne, selbstverständliche Art. Jeden Tag begann er mit einer stillen Messe. Urlaub im herkömmlichen Sinn war dem Arbeitstier fremd. Während gemeinsamer Ferientage mit Herbert Vorgrimler entstand das berühmte „Kleine Theologische Wörterbuch“ auf einer Schwarzwaldwiese. Zur Konzilszeit brachte es Rahner auf bis zu 400 Veröffentlichungen im Jahr.
Berüchtigt war Rahners Verhältnis zum Auto. Seine eigenen Fahrkünste endeten nach wenigen Metern an einer Garagenwand. Umso ungeduldiger bestand er darauf, mit Höchstgeschwindigkeit durch die Lande kutschiert zu werden, erinnert sich seine letzte Sekretärin Elfriede Oeggl. Rote Ampeln zogen den ungebremsten Zorn des Alemannen auf sich, die Anspannung löste sich erst bei der Auffahrt auf die Autobahn. „So und jetzt lassen wir das Rösslein springen“, sagte er dann und schlummerte bei Tempo 150 ein. Wenn die Fahrerin glaubte, nun etwas vom Gas gehen zu können, wachte er gleich wieder auf, fragte, ob etwas kaputt sei, und fuhrwerkte am Schalthebel herum. „Herr Professor, so geht es nicht, sie wollen vielleicht gleich zum Herrgott in den Himmel, aber ich will heim zu meiner Familie“, sagte Oeggl dann.
Die resolute Sekretärin mit Gesangsausbildung erinnert sich noch gut an ihre erste Begegnung mit dem Pater. Zum Bewerbungsgespräch kam ihr ein kleiner Mann auf der Treppe entgegen, der sofort mütterliche Instinkte in ihr wach rief. Noch vor der Begrüßung musste sie ihm spontan die Schuhe zubinden. Sie bekam den Job. Doch schon beim ersten Diktat warf der Gelehrte aus Wut über eine Unterbrechung den Schlüsselbund nach ihr. Am nächsten Tag lagen zur Entschuldigung zehn Tafeln Schokolade auf Oeggls Schreibtisch. Um den nicht enden wollenden Satzkaskaden mit den vielen ungewohnten Fachbegriffen besser folgen zu können, überredete die Sekretärin ihren Chef, seine museumsreife mechanische Triumph-Adler zu entsorgen, auf der er früher selbst im Zweifinger-Suchsystem getippt hatte. „Bei Anschaffungen war er sehr großzügig“, erinnert sich Oeggl.
Zum Espresso nachmittags nach Trient
Zur vereinbarten dreistündigen Tätigkeit als Schreibkraft kamen bald weitere Aufgaben hinzu.
Oeggl wurde Rahners „guter Geist“. Sie durfte mit Erlaubnis seiner Oberen in die Klausur, brachte sein bis dato völlig schmuckloses Zimmer mit Vorhängen, Teppich, Bildern und frischen Blumen auf Vordermann und kleidete den alten Mann, der sich über einen verlorenen Knopf am Sakko keinerlei Gedanken machte, neu ein. „Dem Karl geht’s aber gut“, bemerkten seine Mitbrüder daraufhin, wohl nicht ganz ohne Neid. Zum Espressotrinken am Nachmittag chauffierte sie den bisweilen von Einsamkeit geplagten Pater auch schon mal bis nach Trient.
Bis zuletzt kraftvoll und mit Leidenschaft
Oeggl empfindet heute noch „grenzenlose Bewunderung“ für Rahner. Ihr imponierte sein fulminantes Gedächtnis und wie er aus fünf bis sechs Worten einen langen Text entwickeln konnte, ohne den Faden zu verlieren. Und dass er bis zuletzt kraftvoll und mit Leidenschaft in vollen Sälen Vorträge hielt, „dass sogar den Männern die Tränen kamen“. Die frühere Notariatsangestellte spürte die Genialität von Rahners Gedanken eher intuitiv, ohne sie völlig zu erfassen. „Dass jeder Mensch, der Gott sucht, auf dem richtigen Weg ist, dass Gott sich ihm zu erkennen gibt“, ist das, was ihr von seiner Theologie am stärksten haften geblieben ist. Die Sekretärin saß auch an Rahners Sterbebett. Nach seinem Tod boten ihr private Fernsehsender viel Geld. Sie erhofften sich Indiskretionen über Rahners angebliche Liebschaft mit der Schriftstellerin Luise Rinser oder andere intime Plaudereien. Sie hat sich diesem Ansinnen strikt verweigert.