Eine Frau aus dem Mayavolk der Ixil kam in den Zeugenstand. Sie erzählte von einer Nacht, in der Soldaten der Armee ihr Dorf überfallen hatten. Sie war in den Wald geflohen, mit ihrem Sohn auf den Armen, den sie einen Monat zuvor zur Welt gebracht hatte. Das Baby hörte nicht auf zu weinen. Sie legte ein Tuch über sein Gesicht, damit das Wimmern nicht mehr zu hören war. Es hätte sie verraten können. Richterin Yassmin Barrios erinnert sich an die Zeugin, die im Jahr 2013 in Guatemala-Stadt während des sogenannten „Genozid-Prozesses“ ausgesagt hat. Damals war Barrios die Vorsitzende dieses wohl wichtigsten Gerichtsverfahrens, das die guatemaltekische Gesellschaft bis dahin erlebt hatte. „Während die Frau aussagte, rollten Tränen über ihre Wangen“, erzählt die Richterin. „Auf der Flucht rannte sie lange durch den Wald. Schluchzend erzählte sie, wie sie erst stehen blieb, als sie sich sicher fühlte, dass ihr kein Soldat gefolgt war.“ Die Frau nahm das Tuch vom Gesicht des Kindes. Ihr Sohn war erstickt.
Grauenvolle Taten
Drei Monate lang leitete Yassmin Barrios die Verhandlungen des Genozid-Prozesses. Über hundert Zeuginnen und Zeugen aus dem Mayavolk der Ixil kamen zu Wort. In den achtziger Jahren hatte die guatemaltekische Armee ihre Dörfer zerstört, um der Guerilla jegliche Unterstützung durch die Zivilbevölkerung zu entziehen. Das Verfahren war wichtig für die Aufarbeitung des Völkermords und des andauernden Rassismus gegenüber der indigenen Mayabevölkerung. Es ging um die Frage, ob sich der ehemalige Diktator Efraín Rios Montt des Völkermords schuldig gemacht hatte. Der angeklagte General war im Jahr 1982 durch einen Putsch an die Macht gekommen. Damit begann die grausamste Phase des guatemaltekischen Bürgerkriegs.
Eine andere Zeugin sagte aus, wie sie von zwanzig Soldaten vergewaltigt worden war, während ihre Tochter zusehen musste. „Danach wurde auch das zwölfjährige Mädchen vergewaltigt“, sagt Richterin Barrios. „Auch diese Zeugin weinte unaufhörlich. Für die Frauen war der Prozess eine Katharsis. Aus juristischer Sicht war besonders wichtig, dass deutlich wurde, wie scheinbar willkürlich die Soldaten über die Dörfer herfielen. Trotzdem war es ein systematisches Vorgehen, so dass man von Massakern sprechen muss. Zusammen mit den Schöffen kam ich zu dem Schluss, dass es sich um einen Völkermord gehandelt hat.“
Der Prozess hat Richterin Yassmin Barrios international bekannt gemacht. Für sie besteht kein Zweifel: Die Zeugenaussagen, die Berichte der Expertinnen und Experten, die Beweise und die Analyse vieler Dokumente ließen ihr keine andere Möglichkeit. Sie sprach General Efraín Rios Montt des Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig. Es war weltweit das erste Mal, dass ein ehemaliger Staatschef von einem nationalen Gericht des Völkermords schuldig gesprochen wurde. Das Urteil gilt als internationaler Präzedenzfall.
Eigene Freiheit verloren
Seither ist Yassmin Barrios eine Galionsfigur der unabhängigen Rechtsprechung. Doch in der guatemaltekischen Gesellschaft gibt es viele einflussreiche Personen, die sie bedrohen und attackieren. Die Richterin erlebte, wie sich Armeeangehörige, wohlhabende Großgrundbesitzer, paramilitärische Milizen und mächtige Politiker zusammenschlossen, um gegen das Urteil zu protestieren. „Wir hatten ein Urteil gesprochen, doch das damalige Verfassungsgericht hob es sofort wieder auf. General Rios Montt kam nie ins Gefängnis. Als er am 1. April 2018 starb, stand er unter Hausarrest. Erst nach seinem Tod wurde das ursprüngliche Urteil bestätigt. Doch da hatte die Richterin Yassmin Barrios längst ihre eigene Freiheit verloren. „Ich werde ständig von Personenschützern bewacht. Nur deshalb bin ich noch am Leben. Yassmin Barrios wurde angegriffen und stigmatisiert. Andere Richterinnen werden mit Anklagen überzogen und kriminalisiert. Die Richterin Erika Aifán muss sich gegen viele Dutzend Anzeigen wehren. Sie ist seit fünf Jahren Vorsitzende eines Gerichts, das sich „Tribunal de Mayor Riesgo“ nennt, Strafgericht mit hohem Risiko. „Diese Leute haben die Macht, Beteiligte an den Verfahren zu bedrohen, zu bestechen oder anzugreifen. Deshalb verhandeln wir unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen.”
Kein Respekt
Erika Aifán ist eine schlanke Frau, ihre Stimme sanft. Einige glauben wohl, sie sei leicht einzuschüchtern. Aber die Richterin tritt energisch auf. „In Guatemala ist es schwierig, Richterin zu sein. Das Amt wird nicht respektiert. Tag für Tag werden wir beleidigt, diskreditiert, gedemütigt, bedroht.“ Nachdem sie das erste Mal Morddrohungen erhalten hatte, wurden ihr Sicherheitskräfte zugeteilt. Seither wird sie ständig von mehreren Polizisten bewacht, rund um die Uhr, denn Erika Aifán verurteilt Personen, die in den Drogenhandel verwickelt sind.
Sie richtet über einflussreiche Geschäftsleute, korrupte Politiker, Geldwäscher und Justizbeamte, die das Recht manipulieren. Sie war auch Richterin im Prozess gegen Odebrecht. Die brasilianische Baufirma hat in acht lateinamerikanischen Ländern Hunderte von Politikerinnen und Politikern bestochen, um lukrative Staatsaufträge zugeschanzt zu bekommen. Die Rede ist von achthundert Millionen Dollar Schmiergeld. „Diese Leute haben nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, die sie auch gegen uns Richterinnen einsetzen. Ich muss mich mit siebzig Strafanzeigen herumschlagen. Und dann gibt es noch Anzeigen beim Amt des Ombudsmanns für Menschenrechte, beim Nationalen Büro gegen Folter und bei der Kammer der Rechtsanwälte und Notare. Selbst dem Obersten Gerichtshof liegen einige Anzeigen gegen mich vor“, erklärt Richterin Aifán.
Persönliche Attacken
Auch gegen Richterin Yassmin Barrios laufen viele Anzeigen. Sie ist überzeugt, dass die Ausübung ihres Amtes ihr und ihren weiblichen Kolleginnen besonders schwer gemacht wird: „In einem ausgesprochen machistischen Land wie Guatemala ist es wie ein Angriff auf das Weltbild vieler Männer, wenn eine Frau als Präsidentin einer Strafkammer vorsitzt und Verhandlungen führt. Einige Strafverteidiger können gar nicht anders, als mich persönlich anzugreifen, weil ich eine Frau bin. Sie kritisieren meine Frisur, meine Kleidung, mein Verhalten.“ Yassmin Barrios sitzt auf einem alten, etwas ausgefransten Sessel in ihrem kleinen Wohnzimmer. Ihr bescheidenes Haus steht an einer viel befahrenen Straße in einer unscheinbaren Gegend im Westen von Guatemala-Stadt. In der Garage direkt neben dem Wohnzimmer trinken drei Personenschützer Kaffee. „Im Laufe meines Lebens bin ich oft bedroht worden“, sagt sie. Ende 2015 gab es einen Angriff auf das Gerichtsgebäude. „Als die ersten Schüsse fielen, befand ich mich im Parkhaus im Keller. Wir waren sechzehn Personen, die alle auf den Aufzug warteten. Es gab keinen Ausweg und die Schüsse kamen immer näher. Wir versteckten uns in einer Toilette. Ich begann, meinen Rosenkranz zu beten. Nach etwa fünfzehn Minuten gelang es uns, in den Aufzug zu steigen. Als ich im Verhandlungssaal ankam, war ich kreidebleich.“ Zehn Minuten später begann sie, eine Verhandlung zu leiten.
Bald dachte sie nicht mehr an den Überfall im Parkhaus, bis sie vor kurzem für einen Fall zuständig war, bei dem eine Audio-CD abgespielt wurde. Die Aussage eines Mitglieds einer kriminellen Bande war zu hören. Der Staatsanwalt fragte: „Warum waren Sie an jenem Tag vor Ort?“ Der Angeklagte antwortete: „Wir sollten einen Richter überfallen.“ Frage: „Welchen Richter?“ Antwort: „Die Richterin Yassmin Barrios.“ So erfuhr Yassmin Barrios, dass der Angriff damals ihr gegolten hatte: „Es traf mich wie ein Blitz. Alle im Saal – die Staatsanwälte, die Verteidiger – alle waren still.“
Gegenseitige Unterstützung
Angesichts der Gefahr versuchen einige unabhängige Richterinnen und Richter, sich gegenseitig zu unterstützen. Sie haben eine Vereinigung gegründet, mit der sie die Unabhängigkeit ihrer Arbeit schützen wollen. Erika Aifán macht mit: „Die Vereinigung ist eine große Hilfe. Wir pflegen Freundschaften, die mir viel bedeuten.” Die Gruppe kümmert sich auch um die mentale Gesundheit bedrohter Kolleginnen.
Erika Aifán erinnert sich an eine besonders schwierige Zeit. „Es ging um eine richterliche Verfügung gegen mich. Ich hatte nicht die Zeit, auf all die juristischen Angriffe zu reagieren. Deshalb konnte ich mich nicht angemessen verteidigen. Da kamen mir meine Kameradinnen zu Hilfe. Sie verteilten die Arbeit untereinander, untersuchten die Vorwürfe und setzten Schriftstücke auf. Es war Sonntagnacht, zwei Uhr. Trotzdem riefen sie mich ständig an und sagten: ,Schau her, wir haben dies und das diskutiert und dir einen Vorschlag gemailt.' Da sagte ich: ,Hört mal, es ist Sonntag. Morgen müssen wir arbeiten. Aber ihr seid noch immer nicht schlafen gegangen.' Sie lachten und antworteten: ,Du bist doch auch nicht im Bett.' ,Das stimmt, aber es geht hier um mein Problem.' Da haben sie gesagt: ,Nein, es geht um unser Problem.' Das werde ich nie vergessen.”
Andreas Boueke