Am vierten Adventssonntag 1965 wurde ich als neuer Pfarrer in die Pfarrei Mömlingen feierlich eingeführt. Im Blick auf die Weihnachtsfeiertage, auf Jahresschluss und Neujahr wurde ich wiederholt gefragt: „Wie wird das oder jenes in Zukunft sein? Was werden Sie anders machen als Ihre Vorgänger?“ Meine Reaktion darauf war, ich müsse doch erst einmal sehen, was hier vor Ort gelebt werde, und warum so und nicht anders. Darauf kam die stereotype Antwort: „Jeder neue Pfarrer kam mit seinen Vorstellungen hier an und setzte sie auch durch.“
Diese Linie gedachte ich auf keinen Fall fortzusetzen. Sie widersprach meiner inzwischen gewonnenen Auffassung von Seelsorge. Denn nach Kriegseinsatz und mehr als dreijähriger russischer Gefangenschaft sollte ich nach Studium, Priesterweihe und dreijähriger Kaplanstätigkeit in Aschaffenburg-Mariä Geburt auf ausdrücklichen Wunsch des damaligen Bischofs Julius Döpfner erst einmal für wenigstens sechs Jahre meine Erfahrungen mit jungen Arbeiterinnen und Arbeitern in der Berufsschule teilen. Daraus ergab sich beinahe wie von selbst neben der Schultätigkeit das seelsorgliche Engagement in der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ). Prägend für die kommende Zeit wurden die Exerzitien mit dem CAJ-Gründer Josef Cardijn, die Kontakte mit französischen, belgischen, flämischen und österreichischen Abteilungen der CAJ und CAJF sowie mit ihren Kaplänen. In diesem Umfeld erlebte ich zum ersten Mal das Ernstnehmen der Gott gegebenen Charismen und erlebte den Priester als Diener und Inspirator des Volkes Gottes.
Was mich bisher nur als vage Ahnung und Hoffnung bewegte, fand ich hier greifbar gelebt vor. Ich begegnete „verantwortungsbewussten, mündigen Laien“ statt nur „willigen Lakaien“. Und ich war fest überzeugt, dass (unter demokratischen Verhältnissen in der Gesellschaft) die Zeit reif sei, dass sich alle Getauften ihrer Mitverantwortung in Kirche und Gesellschaft bewusst werden müssten, und dass ihnen in den Pfarrgemeinden Mitgestaltungsmöglichkeiten eröffnet werden sollten. Die Beschlüsse des eben zu Ende gegangenen Zweiten Vatikanischen Konzils wiesen in die gleiche Richtung. So konnten guten Gewissens in der mir neu übertragenen Pfarrei die ersten Schritte gewagt werden.
Die Gelegenheit zum grundsätzlichen Überdenken des bisherigen Klerus zentrierten Gemeindelebens war günstig, wie die Fragen der Gläubigen zeigte. Da in der Jahresschlussandacht gewöhnlich ein bilanzierender Rückblick des Pfarrers auf das kirchliche Leben vorgelegt wurde, konnte ich dieser Erwartung nicht entsprechen. Stattdessen sollte lieber die Zukunft in den Blick genommen werden; konkret das Zusammenspiel von Amt und Charisma. Ich sprach also von meinem Amtsverständnis als Dienst an den Menschen in ihren konkreten Lebensverhältnissen. Wie sollte ich aber als Neuling meinen Dienst tun können, wenn ich mit dem Bisherigen und Gegenwärtigen, eben der Pfarrgemeinde nicht vertraut gemacht würde. Wer könnte diese Aufgabe übernehmen? Die Kirchenverwaltung oder vielleicht ein „Pfarrausschuss“ – das heißt vom Pfarrer ausgewählte Berater? Besser wäre wohl ein Gremium, das sich aus Männern und Frauen zusammensetzt, die in den unterschiedlichen Milieus der Gemeinde leben. Sie sollten sich an einem Tisch treffen, damit nicht die Interessen und Wünsche bestimmter Gruppierungen das Gemeindeleben einseitig beeinflussen können. Mein Vorschlag: Auf einer Liste versuchen wir Personengruppen aufzuführen, die das Gesicht dieser Gemeinde ausmachen, etwa gleich viel Männer und Frauen. Zu jeder dieser Gruppen sollten möglichst alle – Jung und Alt – jemanden vorschlagen, der diese Lebensverhältnisse gut kennt und sie auch überzeugend vertreten kann.
Die Vorschlagsliste sah dann so aus: Für den zu bildenden Pfarrausschuss schlage ich folgende Männer vor:
a) Jung verheirateter Mann
b) Vater von drei und mehr Kindern unter 15 Jahren
c) Älterer Mann oder Witwer
d) Industrie- oder Facharbeiter
e) Selbständiger in Handwerk oder Handel
f) Schichtarbeiter
g) Angestellter oder Beamter
h) Landwirt
i) Jungmann zwischen 16 und 24 Jahren
Folgende Frauen schlage ich vor:
a) Jung verheiratete Frau
b) Mutter von drei oder mehr Kindern unter 15 Jahren
c) Ältere Frau oder Witwe
d) Hausfrau
e) In Geschäft oder Landwirtschaft mithelfende Familienangehörige
f) Verheiratete berufstätige Frau
g) Unverheiratete berufstätige Frau
h) Mädchen zwischen 16 und 24 Jahren
Nach einer Woche wanderten die ausgefüllten Vorschlagslisten in eine Tonne am Kircheneingang. Freiwillige Helferinnen und Helfer sichteten die Vorschläge (auch ungewohnte Namen tauchten auf!) und setzten die drei am meisten genannten Namen als Kandidaten auf den Wahlzettel. Nun kam die spannende Frage: Und wer fragt die Vorgeschlagenen, ob sie bereit wären zu kandidieren? Natürlich herrschte die Meinung vor, die Autorität des Pfarrers böte die besten Erfolgsaussichten. Mein Gegenargument: Bekannte wissen oft besser, wie der oder die Jeweilige anzusprechen sei, und auf Grund welcher bisherigen Tätigkeiten man wohl auf ihn oder sie gekommen sei. Das leuchtete ein, und im Nu waren die Adressen der zu Befragenden unter den Anwesenden aufgeteilt. Das Ergebnis wurde als Aha-Erlebnis, wenn nicht sogar als Wunder eingestuft: Nicht ein Einziger der 51 Vorgeschlagenen lehnte ab! Häufig wurde als Begründung genannt: „Wenn die Bevölkerung einem diese Aufgabe zutraue, dann könne man sie getrost annehmen. Wäre aber der Pfarrer gekommen ...“
Vor ein leidiges Problem stellt bei allen Wahlen die Enttäuschung der „durchgefallenen“ Kandidaten. Wie man mit ihnen umgeht, wird für die Gewinnung künftiger Kandidaten von ausschlagebender Bedeutung sein. Da in der Kirche keine Machtkämpfe auszufechten sind, sondern Gott gegebene Charismen ergänzend zusammenstehen sollen, dürfte es bei kirchlichen Wahlen auch keine Sieger und Unterlegene geben. Dem trugen wir Rechnung, indem alle Kandidaten – auch die nicht Gewählten – gebeten wurden, ihre Interessen und Erfahrungen in die zu bildenden Arbeitskreise („Sachausschüsse“) einzubringen.
Am 13. Februar 1966 wurde dann wie bei sonstigen Wahlen geheim gewählt. Ein Ausschuss (Handwerker wissen, dass „Ausschuss“ etwas Missglücktes ist) war das nun nicht mehr. Es war – wie in der politischen Gemeinde auch – ein verantwortliches Gestaltungs- und Entscheidungsgremium für die Pfarrgemeinde, also ein „Pfarrgemeinderat“. Das Etikett war gefunden und wurde beifällig in der Gemeinde aufgenommen. Durch den Seelsorgereferenten der Diözese Würzburg, dem damaligen Weihbischof Alfons Kempf, der bei den Beratungen über die Laienarbeit mitwirkte, kam unser örtlicher Versuch in die Diskussion. Man hatte Bedenken wegen der Offenheit der Vorschläge und einer möglichen „Unterwanderung“. Die Bezeichnung „Pfarrgemeinderat“ aber wurde gerne übernommen. Nachdem später in den Diözesen Pfarrgemeinderäte satzungsgemäß zu wählen waren, bekam Mömlingen immer noch die Ausnahmegenehmigung, in der bisherigen Weise wählen zu dürfen.