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Alles Wissenswerte rund um Papst Leo XIV. und seine ersten 100 Tage im Amt erfahren Sie im Sonntagblatt.

    Alles Wissenswerte rund um Papst Leo XIV. und seine ersten 100 Tage im Amt...

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    Mosaik der Schicksale

    Die Tür öffnet sich, wohlige Wärme, vermischt mit muffigem Dunst ungewaschener Kleidung und einer strengen Alkoholfahne drängt sich auf. Im schmalen hellen Flur ist es eng. Drei junge Männer stehen dicht beieinander. Der Raum hinter der Milchglasscheibe ist voll, das heißt warten. Es dürfen immer nur drei Männer gleichzeitig rein, für eine halbe Stunde. Für Frauen gilt dies nicht, sie haben immer Zutritt. In den Räumen der Würzburger Bahnhofsmission finden Gestrandete, Obdachlose und Rat Suchende 24 Stunden am Tag Menschen die zuhören, informieren und weitervermitteln.
    Drei Männer sitzen im Raum, jeder an einem anderen Tisch. Schweigend kauen sie an ihren Brötchen, den dampfenden Tee im gespülten Joghurtbecher vor sich. Einer schlummert zusammengesunken auf der braunen Eckbank. Es riecht nach Alkohol. „Nur zehn Minuten ausruhen“, dann muss Toni zu Lidl, Bier kaufen. Sie kennen sich nicht, reden nicht miteinander – und dennoch kommen die Männer in die Bahnhofsmission, um nicht in ihrer Einsamkeit verloren zu gehen. In diesen Räumen finden Gestrandete, Obdachlose und Rat Suchende Menschen die zuhören, informieren und weitervermitteln.

    Die Tür zu den Räumen der Bahnhofsmission ist nur angelehnt – 24 Stunden am Tag, 8760 Stunden im Jahr. Die Würzburger Bahnhofsmission ist eine der wenigen Einrichtungen ihrer Art in Deutschland, die es sich noch leistet, rund um die Uhr für Menschen aller Coleur da zu sein, ganz gleich, woher sie kommen, wohin sie wollen und welches Anliegen sie haben. Rein in die zugige Bahnhofshalle, der kalte Ostwind fegt durch die pendelnde gläserne Seitentür. Eilig hasten Reisende mit Koffern vorbei, schauen auf die Armbanduhr. Die Lautsprecher vom Bahnsteig oben plärren blechern in der Ferne, Wortfetzen hängen in der Luft und verhallen auf dem Weg in den Seitengang der Halle, in dem die Bahnhofsmission liegt.

    Wohlige Wärme für alle
    Die Tür öffnet sich, wohlige Wärme, vermischt mit muffigem Dunst ungewaschener Kleidung und einer strengen Alkoholfahne drängt sich auf. Im schmalen hellen Flur ist es eng. Drei junge Männer stehen dicht beieinander, trippeln sich auf den braunen 70er Jahre Fliesen die Füße warm, die Hände tief in die Taschen vergraben. „Ist kalt draußen.“ Die Tür mit der Milchglasscheibe, die Einlass in den Aufenthaltsraum gewährt, ist geschlossen. Der Raum ist voll, das heißt warten. Es dürfen immer nur drei Männer gleichzeitig rein, für eine halbe Stunde. Dann sind die nächsten dran, so lautet die Regel. Alkohol und Aggression könnten hier sonst ein explosives Gemisch ergeben. Für Frauen gilt dies nicht, sie haben immer Zutritt. Im kleinen Büro mit dem großen Fenster steht die Tür zum Flur offen, auch die kleine Scheibe am Gang ist geöffnet, sie erinnert an die Pforte einer Behörde. Heute haben Helmut Fries und Sebastian Gerhard Dienst in der Bahnhofsmission.

    Der 63-jährige Fries hält einen Plastikbehälter unter den Wasserhahn, dreht ihn auf und füllt hinter der Theke im gemütlich pastellgelb gestrichenen Aufenthaltsraum den silbernen 5-Liter-Topf auf dem Herd.

    Lachfältchen helfen
    Geübte Handgriffe, denn seit einem Jahr ist der rüstige Pensionär mit Lachfältchen um die Mundwinkel im Team der Ehrenamtlichen. Sebastian sitzt im Büro und hält ein „Pläuschchen“ durch die geöffnete Scheibe. Soziale Arbeit ist sein Fach; nicht nur hier – auch im Studium an der Würzburger Universität. Seit drei Jahren engagiert sich der zurückhaltend wirkende junge Mann mit dem Vollbart und dem strubbeligen Pferdeschwanz nebenbei in der Bahnhofsmission.

    Seit 1898 gibt es die Bahnhofsmission Würzburg. Gegründet, um junge Frauen vom Land vor Ausbeutung und Prostitution in der Stadt zu schützen, wird sie ihrer fürsorglichen Aufgabe auch heute noch gerecht. Mehr als ein Jahrhundert später können sich Frauen noch immer in die Obhut der Bahnhofsmission begeben, wenn sie in einer akuten Notsituation sind. Ein bis zwei Nächte können sie in einem Raum übernachten. Die Mitarbeiter nehmen dann Kontakt mit entsprechenden Einrichtungen, beispielsweise dem Frauenhaus, auf. Rund 38 500 Mal fragten Frauen, Kinder, Jugendliche und Männer im Jahr 2005 in der ökumenischen Einrichtung der Christophorus gGmbH, getragen von Diakonie und Caritas, um Hilfe nach. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 95 563 Hilfen geleistet. Die enge finanzielle Lage spürt auch diese Einrichtung: Um rund 150 000 Euro auf derzeit 255 000 Euro sank der Jahresetat innerhalb der vergangenen zwei Jahre. Darin enthalten sind Sachkosten im Umfang von rund 50 000 Euro, der Rest sind Personalkosten.

    Hartz IV macht nicht satt
    Nur einer der Wartenden im Flur scheint einigermaßen warm gekleidet, den gelben schmuddeligen Schal eng um den Hals gewickelt, die quietschblau-rot gestreifte Pudelmütze thront speckig-steif auf dem dunklen Haarschopf. Christian kommt jeden Tag hierher, weil er Hunger hat. Unrasiert und hohlwangig schaut er sich mit großen braunen Augen skeptisch um.

    Hartz IV macht den 23-Jährigen nicht satt. „Ich freue mich immer auf das Essen. Aber noch toller fände ich es, wenn ich mir die Brötchen selbst kaufen könnte.“ Zwei Bäckereien auf dem Bahnhofsgelände geben übrig Gebliebenes abends kostenlos ab. Nicht nur das kostenlose Essen kommt gut an. Auch anderen Nöten kann ein wenig Abhilfe geschaffen werden, erklärt Helmut Fries: „Wir sind für die da, die uns brauchen, und versuchen gemeinsam eine Lösung für ihr Problem zu finden. Arbeits- und Wohnungssuchende können bei uns telefonieren und die aktuelle Tageszeitung liegt hier aus. Außerdem stellen wir auf Wunsch den Kontakt zu anderen Einrichtungen her und bieten Einzelgespräche an.“

    Interesse und Anteilnahme
    Soweit ist Lisa noch nicht. 17 Jahre jung, aber ihre Geschichte reicht für drei Leben. Ein kesses Mädchen mit zerzaustem Kurzhaarschnitt, gerade im Drogenentzug, die Eltern getrennt, die Mutter Alkoholikerin. Ein Streit mit dem Vater ließ sie abhauen.
    Eigentlich „liebe sie ihren Vater ganz doll“, aber im Moment „geht da nichts“. Schweigen. Sie hält zitternd die Arme um den Oberkörper geschlungen. „Kann ich bitte einen Tee haben?“ Seit Lisa weg ist von daheim lebt sie mehr oder weniger „auf der Platte“, an die Kälte im Freien hat sie sich gewöhnt. Nur heute – wo sie noch nichts gegessen hat – friert sie in ihrer schwarzen Sweatshirt-Jacke bei minus 15 Grad. Seit drei Wochen konnte sie ihre Kleidung nicht wechseln. Warum Helmut Fries sich nach Jahrzehnten im Schuldienst um diese Menschen kümmert? Einige Sekunden schaut er nachdenklich, dann kommt das gewohnt liebenswerte Lächeln zurück. Die feste Stimme verleiht der Antwort Nachdruck: „Das sind Lebenssituationen und Schicksale, die mir zwar fremd sind – die mich aber neugierig machen. Was muss passiert sein, damit jemand so tief rutscht?“
    Die Tür geht auf. Eine zierliche, kleine ältere Dame, in roter Jacke und mit schwarzem Hut trippelt herein, umgeben von einem streng nach ungewaschenen Kleidern riechenden Dunst. Sie lächelt durch die großen Zahnlücken. „Hallo Annemarie“. Die freundlichen blauen Augen der älteren Frau blitzen, Plastiktüten rascheln an ihrem Arm. Der Türöffner schnarrt. Vertraut steuert sie direkt auf die braune Kunstleder-Sitzecke zu und stellt ihre Tüten ab. Drei Tische mit Holzstühlen stehen hier; die Bank aber ist Annemaries Stammplatz. Gewohnheiten tun gut. An der Wand hängen verschiedene selbst gemalte Bilder, auf dem Fensterbrett sorgt eine orangefarbene Salzkristalllampe für gemütliches Licht. Wer hierher kommt, braucht nicht unbedingt einen Gesprächspartner. Der Zeitungsständer ist voll mit den Tageszeitungen der letzten Woche, an der Wand hängt ein Regal mit abgegriffenen Gesellschaftsspielen. Annemarie setzt sich nuschelnd auf die Eckbank, der Blick haftet auf dem mit Tee gefüllten Joghurtbecher. Helmut Fries beobachtet schmunzelnd die im Selbstgespräch vertiefte Frau.
    „Man versteht ihr fränkisches Gebrabbel nur schwer. Aber sie möchte auch nur, dass ihr jemand zuhört.“ Es komme immer etwas zurück von all diesen Menschen. Seine Motivation beschreibt Fries, der ehemals als Schulleiter der Hauger Schule tätig war, so: „Wir lernen als Mitarbeiter und als Mensch Einiges hier. Elend anzuschauen zum Beispiel und es auszuhalten. Sich einlassen auf die Menschen, aber auch Grenzen wahrzunehmen bei sich und den anderen.“
    In der Bahnhofsmission gibt es 19 hauptamtliche Stellen mit sehr unterscheidlichem Stundenumfang. Darüber hinaus engagieren sich 17 ehrenamtlichen Mitarbeiter vier Stunden die Woche. „Das klingt nach vielen Helfern, relativiert sich aber schnell, wenn man bedenkt, das hier die vierfache Arbeit geleistet wird,“ erklärt Michael Lindner-Jung, Leiter der Bahnhofsmission Würzburg. Der am 1. Dezember 2005 gegründete Förderverein der Bahnhofsmission soll hier Rückenwind geben. Für Lindner-Jung sind die Mitarbeiter das „höchste Gut“ in der täglichen Arbeit: „Fachliche Begleitung und Seminare sind in Zukunft nötig, um die Arbeit der Mitarbeiter hier zu sichern. Sie tragen das Ganze mit, aber auch sie müssen die täglichen Probleme aufarbeiten können“, erklärt der dynamische, leger gekleidete Theologe.

    Bisher gibt es wöchentliche Teambesprechungen, bei denen die Mitarbeiter ihre Sorgen und Probleme vortragen können und diese in der Gruppe reflektiert werden. Dennoch muss dieser Bereich ausgebaut werden, erläutert Helmut Fries mit Nachdruck. Er hat den Vorsitz des neu gegründeten Vereins übernommen: „Der Förderverein hat sich zum Ziel gesetzt, die Mitarbeiter vor allem mit finanziellen Mitteln zu begleiten und zu fördern.“ Mit dem Budget, das durch Spenden aufgebaut werden soll, könne zumindest die fachliche Begleitung der Haupt- und Ehrenamtlichen gesichert werden, da ist Michael Lindner-Jung sehr zuversichtlich. Der Türdrücker im Büro surrt, Lisa geht in den Aufenthaltsraum, die jungen Männer warten immer noch geduldig im Flur. Hier ist es warm. „Viele wollen nicht rein, sie ertragen keine Räume, haben ihren ganz eigenen Kopf. Die nehmen ihren Becher Tee, stehen hier einige Minuten im Durchgang. Dann bedanken sie sich und gehen wieder,“ erklärt Fries. Viele seien „Insider“, sie wissen wo sie bleiben können, wo es etwas zu essen gibt. „Ansonsten haben wir Kontakt zu sämtlichen sozialen Einrichtungen in der Stadt.“ Das Team arbeitet rund um die Uhr im Drei-Schichten-Rhythmus. Helmut Fries wischt die blaue Fläche der Theke ab, im Vorbeigehen macht er einen Strich auf der „Anwesenheits“-Liste: „Ob Reisende, Jugendliche, Wohnungs- und Arbeitslose oder Rentner. Darüber führen wir täglich eine Liste, um einen Überblick zu haben.“ Von den Besuchern, die täglich eintrudeln, seien 90 Prozent sozial beeinträchtigt, ohne Obdach und Arbeit, in schwierigen Partnerschaften oder Familienverhältnissen.

    Kampf der Einsamkeit
    Der Aufenthaltsraum ist gefüllt, Lisa sitzt wieder am Tisch, die Finger umschließen fest den Joghurtbecher mit dem heißen Inhalt. Annemarie sitzt ihr gegenüber, noch immer im Monolog versunken. Warum kommt sie so oft? Der faltige Mund lächelt breit, die blauen Augen schauen erstaunt: „Weil ich meine festen Termine am Tag habe!“ Auch eine Art, die Einsamkeit zu bekämpfen, wenn der Mann verstorben ist und die Kinder nicht am Kontakt interessiert sind. Dann kommt sie zur Bahnhofsmission, denn hier spürt man den kalten Ostwind von draußen nicht.