Die Einweihungsfeierlichkeiten sind vorbei. Am Silvestertag waren sechs Frauen und drei Männer in den Flachbau, der sich zwischen Altenservice St. Martin, dem Krankenhaus und der Rotkreuzwache einschmiegt, eingezogen. Für Irene Kassulke, Leiterin von St. Martin und ihren Kolleginnen und Kollegen begann eine ganz spannende Sache. Das Besondere an der Wohngemeinschaft ist, dass jeweils 13 Bewohner wie in einer Großfamilie in den drei Wohnungseinheiten zusammen mit Pflegern und Personal leben. Sie sollen eingebunden sein in das tägliche Leben und selbst mitreden können.
Das begann gleich an Silvester. Feste Bett-Zeiten waren nicht vorgegeben. Zwei Bewohner hielten aus, stießen mit Irene Kassulke, Pflegedienstleiterin Ingrid Baum und Gerontofachkraft Theresa Lipka um Mitternacht auf das neue Jahr an. Caritas-Geschäftsführerin Anke Schäflein war ebenfalls bis 23 Uhr im Haus. Nach dem Trubel des Einzuges begann an Neujahr der Alltag. Acht Tage später öffnete man der Presse die Einrichtung, um ihr die Möglichkeit zu geben, das Leben in der Wohngemeinschaft einmal aus nächster Nähe kennenzulernen. Demenz kann zwar jeden treffen, trotzdem outet sich niemand gerne als Betroffener. Aus diesem Grund wurden die Namen der Bewohner geändert.
Es riecht nach Kraut und neuen Möbeln. Ulrike Sudek, eine grauhaarige gepflegte Dame, sitzt in der „Lebendigen Mitte“ (Wohn-, Esszimmer und Küche in einem – ein Begriff des Kuratoriums Deutsche Altenhilfe) auf der Stuhlkante und schält Kartoffeln. Ab und zu greift sie in die Schüssel der bereits geschälten Kartoffeln, zieht eine heraus und fragt, wer diese geschält hat? Sie ist nicht zufrieden, schneidet nach. Als Stationsleiterin Hildegard Berthold vorbei kommt, zeigt sie stolz ihr Werk. Damit erlischt aber ihr Elan, sie legt den Kartoffelschäler weg, mag einfach nicht mehr. Hildegard Berthold greift sich schnell den Schäler und vollendet die Arbeit.
Am Herd arbeitet derweil Helferin Helga Kuhn zusammen mit Bewohner Max Georgi. „Knöchli, Sauerkraut und Kartoffelbrei“ stehen auf dem Speiseplan. So haben es die Bewohner selbst bestimmt und waren auch mit dem Einwand, dass es doch an Neujahr Kassler mit den gleichen Zutaten gab, nicht davon abzubringen. Morgen stehen dann Rauchfleisch mit Bohnengemüse und Mehlklößen, am Freitag Tomatensuppe, marinierte Heringe und Kartoffeln und am Sonntag Jägerschnitzel mit Spätzli und Salat auf dem Küchenplan.
Helferin Kuhn ist keine Köchin, jedoch eine gestandene Hausfrau, die zwischendurch mal an den Tisch läuft und Anna Meier die Teetasse zum Mund führt und Veronika Grube Wasser ins Glas nachschenkt. Die beiden Damen sind an diesem Tag nicht so gut drauf. „Abnehmender Mond, da schlafen ältere Menschen schlecht“, diagnostiziert Irene Kassulke. Und auch Agathe Adam, sonst ständig auf Achse, ist wegen Durchfall gehandicapt. Gerade sie hat in den acht Tagen schon die größten Fortschritte gemacht. Irene Kassulke erzählt: „In St. Martin ist sie nur durch die Gänge geirrt, Ende letzter Woche begegnete ich ihr im Gang und sie erzählte mir stolz, dass sie nun Salat schneiden darf.“
Frühstück gibt es in der Wohngemeinschaft von 7.30 bis 10 Uhr. „Wer lange schlafen will, kann schlafen, wir wecken niemand“, sagt Hildegard Berthold. Auch die Zeiten des Mittagessens sind variabel gehalten. Abendessenszeit ist zwischen 17.30 und 18 Uhr angesagt. Übrigens, eingekauft wird alles selbst. Zusammen mit einer Helferin ziehen die Bewohner los, um Kontakt zur Umwelt zu erhalten. Max Georgi lädt uns in sein Zimmer ein. An den Türen stehen die Namen, für manch einen Bewohner ist ein Symbol an die Tür geklebt. Gemütlich ist der Raum von Georgi. Bilder der Familie hängen an der Wand, Drucke von seiner Heimatstadt. Ein bequemer Sessel steht vor dem Fernseher. Der 75-Jährige ist zufrieden mit dem Heim, freut sich auch, dass er sich nützlich machen kann. Stolz zeigt er die Girlanden über dem Esstisch, die von ihm und den Bewohnern gebastelt wurden.
Am Samstag gehts zum Geburtstag des Schwagers, erzählt er strahlend. Apropos Geburtstag. Anna Meier hat heute ihren Ehrentag. Helga Kuhn singt ihr ein Ständchen: „Zum Geburtstag viel Glück“. Und die Damen summen mit. Auf dem Sofa, etwas abseits von der „Lebendigen Mitte“, hat es sich Peter Kraus gemütlich gemacht. Hildegard Berthold erinnert ihn daran, dass er sich rasieren könnte. „Heute nicht“, brummelt er vor sich hin. Und dies wird unwidersprochen hingenommen.
Ein Blick durchs Fenster: Es regnet. Der Garten, der im Frühjahr ergrünen soll, saugt das Wasser auf. Noch ist das Vogelhäuschen, das Max Georgi vor seinem Fenster aufgestellt hat, nicht bevölkert. „Sie müssen sich erst daran gewöhnen“, stellt der Tierfreund fest. Kurzer Rückzug mit Irene Kassulke und Hildegard Berthold ins Dienstzimmer. Dort hängt ein großer Plan. Insgesamt wird in 13 Schichten teilweise überschneidend 24 Stunden Dienst getan. Tag und Nacht ist jemand auf der Hut. Gerade nachts sind manche von den Senioren besonders aktiv und laufen durchs Haus. Was ist, wenn jemand nachts einen Kaffee will? „Dann wird er ihm gekocht“, sagt Leiterin Kassulke. Alle Ereignisse werden notiert. Da steht dann schwarz auf weiß, dass Agathe Adam Durchfall hatte und Max Georgi sein Zimmer von innen abgeschlossen hat. „Zuviel Frauen“, erklärt er augenzwinkernd.
Kurz nach zwölf. Die Knöchli kommen auf den Tisch. Helga Kuhn hilft, die Knochen herauszulösen. Alle essen mit viel Appetit. Nachmittags ist Waschtag, in jeder Wohngemeinschaft gibt es eine Waschmaschine. Die Bewohner können dann beim Bügeln helfen oder Wäsche zusammenlegen. Da es keine festen Bettzeiten gibt, geht die Dienstzeit des Personals bis 23 Uhr. Die Pflegerinnen werden dann zu Animateuren, bieten Fernsehen, Brettspiele und ähnliches an. Geplant ist auch, dass die Wohngemeinschaften an den Aktivitäten des Caritas-Altenservice St. Martin teilnehmen. Um 23 Uhr kommt der Nachtdienst, der unter anderem die „Spaziergänger“ auf den Gängen betreut. 14 Mitarbeiter versorgen eine Gruppe, davon viele in Teilzeit. Für Irene Kassulke ist dies auch notwendig: „Wer ständig mit Demenzkranken arbeitet, muss entspannen, um wieder anspannen zu können.“ Sie ist genauso von der Konzeption überzeugt wie Caritas-Geschäftsführerin Anke Schäflein und hofft, dass bald alle zur Verfügung stehende Plätze in Hofheim belegt sind.
Für interessierte Angehörige gibt es Schnupperbesuch oder Kurzzeitpflege. Interessierten Gruppen wie Seniorenkreisen werden Veranstaltungen und Besichtigungen angeboten. Infos unter Telefon: 09523/925-10.