Die Liebe zu Bolivien begleitet Christian Müssig bereits seit seinem Studium. 1985 verbrachte er ein Freisemester in dem südamerikanischen Land. Nachdem er sein Studium beendet hatte, war er wieder für einige Monate dort. Seine Arbeit als Seelsorger spielt sich allerdings zunächst einmal in Unterfranken ab. Sein erster Einsatz als Leihpfarrer in Bolivien erfolgte schließlich von 2007 bis 2010. Nach diesen drei Jahren kehrte er ins Bistum Würzburg zurück. 2013 zog es ihn wieder nach Bolivien.
Die Pfarrei in Santa Cruz, für die er seither zuständig ist, lag bei seiner Ankunft am Stadtrand. Santa Cruz ist in Ringstraßen aufgebaut, die das Zentrum umgeben. Er kenne die Stadt noch mit sechs Ringstraßen, aber mittlerweile sei man bei 13 angekommen, erzählt Pfarrer Müssig. Seine Pfarrei, in der es anfangs noch Viehweiden gegeben habe, liege nun mitten in der Stadt, sagt er.
Die Adern der Stadt
Wie viele Katholiken er in seiner Pfarrei zu betreuen hat, weiß er nicht genau. Es können 15000 sein, vielleicht aber auch 20000. Darauf komme es letztlich nicht an. Ohnehin gliedere sich das in Santa Cruz nicht streng danach, wo die Leute wohnen. Es komme vielmehr darauf an, wo sie unterwegs seien. Müssig erklärt das so: Die Adern der Stadt sind die Buslinien. In seinem Gebiet fährt die Linie 76 – „und klar, die Leute in der Linie 76, wenn sie kirchlich etwas möchten, dann halten sie bei uns. Die halten nicht in der Pfarrei, die vielleicht für sie zuständig wäre“. Sie gingen dahin, wo sie sowieso vorbeikommen, wo die Lebensströme sind. Das sei da, wo die Busse fahren, denn die wenigsten Menschen hätten ein Auto. Pfarrer Müssig hat zwar ein Auto, doch nach einem Autounfall fährt er nicht mehr damit. Er geht zu Fuß oder fährt Bus. Auf diese Weise trifft er seine Gemeindemitglieder direkt auf der Straße, ist mit ihnen unterwegs. „Das kann ich machen, weil ich keine Landpfarrei habe, wo man vielleicht 40 Weiler und Ortschaften betreuen muss. Da kann man ohne Auto nichts machen“. Doch in der Stadt kommt er so gut zurecht. Und die Leute registrierten auch, dass der Pfarrer – wie alle anderen – zu Fuß oder mit dem Bus unterwegs ist.
Kontakt über Schulen
Ein weiterer zentraler Punkt im Leben der Menschen von Santa Cruz sind die Schulen. Auch dort ist Pfarrer Müssig im Einsatz – allerdings nicht als Lehrer. Das Unterrichten sei nicht so seins, sagt er. Ohnehin gebe es in Bolivien keinen konfessionellen Religionsunterricht, wie man ihn aus Deutschland kenne. Der Unterricht sei eher religionsvergleichend. Aber die Schulen sind der Ort, an dem er mit den Familien in Kontakt kommen könne. Dort lade er die Kinder und Jugendlichen zur Vorbereitung auf die Erstkommunion und zur Firmkatechese ein.
Magnetische Wirkung
Doch in dem Tempo, in dem die Stadt wachse, könne man kaum alle Gebiete, alle Menschen erreichen. Dass die Stadt immer größer werde, liege zum einen am Bevölkerungswachstum, das über dem Schnitt anderer lateinamerikanischer Länder liege. Dazu komme noch eine Verschiebung der Bevölkerung vom Land in die Stadt. „Santa Cruz als Stadt hat eine magnetische Wirkung auf das ganze Land, weil dort aus verschiedenen Gründen die ökonomische Entwicklung – so sie denn stattfindet – dynamischer ist als woanders“, sagt Christian Müssig. Ein weiterer wichtiger Punkt: „Es gibt Wasser“, denn „das große Problem in Bolivien wie in anderen Ländern wird in Zukunft das Wasser sein“. So gingen die Menschen dahin, wo es genügend davon gibt, denn „ohne Wasser keine Entwicklung“, so Müssig. „Santa Cruz galt und gilt als die Stadt, wo du dir ein Leben aufbauen kannst, also wo es Tagesjobs gibt und auch Hoffnung, dass es qualifiziertere Anstellungen gibt, also, dass du irgendwie über den Tag kommst“, erklärt er.
Der Umgang mit Corona
Corona treffe Bolivien, treffe Santa Cruz stark. Das Land durchlaufe – ähnlich wie Deutschland – Phasenmodelle, sagt Müssig. Die erste Phase habe etwa im März 2020 begonnen. „Da war eine große Unsicherheit, wie man mit so einer Pandemie umgehen soll und sie zunächst einmal auch als Pandemie erkennt – also eine Situation, die das ganze Land erfasst, den ganzen Kontinent und die ohne Analogie ist“, erinnert er sich. Die Pandemie werde politisiert, werde heruntergespielt. Aber: „Eine Pandemie verzeiht nicht, wenn sie politisiert wird“, so Pfarrer Müssig. Die damalige Präsidentin habe versucht, Maßnahmen zu ergreifen, darunter strikte Ausgangssperren – auch unter der Woche. Zumindest anfangs hätten die Menschen so viel Angst gehabt, dass sie sich daran hielten, erzählt Müssig. Die Maskenpflicht funktioniere mehr oder weniger, es gebe zwar auch FFP2- und OP-Masken, daneben seien aber auch einfache Papiertaschentücher oder sogar Blätter zu sehen, die vor den Mund gebunden werden – falls die Menschen überhaupt Masken tragen.
Kein Einkommen mehr
Die Schließphase erstreckte sich von März bis August. Das Problem: 70 Prozent der Einwohner von Santa Cruz leben „al dia“, also von ihrem Tagesverdienst. Sie haben kein Einkommen mehr. „Und dann nach einer Woche oder zwei Wochen werden die Futtervorräte knapp“, so Christian Müssig. Zwar habe es Lebensmittelhilfen von der Stadt gegeben, dafür mussten die Bedürftigen jedoch ihre Stromrechnung vorlegen – als Beweis dafür, dass sie tatsächlich in der Stadt leben. Ein Großteil der Menschen lebe aber in Mehrpersonenräumen. Die Stromrechnung habe der Eigentümer. Die tatsächlichen Bewohner kämen nicht an die Rechnung und somit auch nicht an das Essen. „Das war im Grunde die Stunde, wo die Kirche auf den Plan getreten ist“, sagt Müssig. Fünf Pfarreien im Stadtgebiet, darunter die von Müssig, wurden als Sammelzentren für Lebensmittelspenden bestimmt. Von diesen Sammelzentren werden die Spenden über die Stadt verteilt und ausgegeben. Die Voraussetzung dabei: „Wir vergeben nicht nach Parteibuch. Die Lebensmittel sind für alle. Ihr kriegt nur Lebensmittel, wenn ihr an alle ausgebt“. Das sei eine „Anders-Erfahrung“ gewesen, denn der Klientelismus sei in der bolivianischen Gesellschaft eigentlich tief verankert.
Zweite und Dritte Welle
Im August 2020 seien mit den Lockerungen die Freiheiten zurückgekommen. Die Leute konnten wieder losziehen, versuchen einen Tagesjob zu bekommen. Viele seien auch zurück aufs Land gegangen – wo beispielsweise die Großeltern einen Acker haben – um sich versorgen zu können. Diese Rückkehr aufs Land sei allerdings nur vorübergehend, um die Zeit der Pandemie zu überbrücken, erklärt Müssig. Mit der Rücknahme der Restriktionen habe das Tag- und Nachtleben wieder eingesetzt. Im September – der Beginn des Frühlings in Santa Cruz – seien die Zahlen noch leicht zurückgegangen, „aber es war immer eine Grundbelastung da“. Es folgten die zweite und die dritte Welle. Ein Problem dabei: Als die Zahlen zurückgingen, sei Personal aus den Krankenhäusern wieder entlassen worden, das beim Wiederanstieg der Zahlen nicht zurückgekommen sei, da es ohnehin nicht immer bezahlt wurde.
Was die Statistik angehe, liegen die Corona-Fallzahlen beispielsweise in Brasilien, Indien oder auch den USA höher als in Bolivien, „aber das eine sind die Statistiken und das andere ist die Realität“, sagt Müssig. Die Impfungen kämen nur schleppend voran. „Wir leben mit der Präsenz von Corona und hoffen, dass irgendwann die Impfungen mal in Gang kommen. Das wird lange dauern. Ich denke 2022 irgendwann“, so Müssig.
Service in Deutschland
Mit Blick auf die Corona-Vorgänge in Deutschland findet Müssig klare Worte. Es sei dahingestellt, ob alle Corona-Maßnahmen immer richtig seien, dass wisse zu dem jeweiligen Zeitpunkt kein Mensch, aber die Vehemenz, mit der sich manche Menschen daran festhalten, dass das Virus nicht existiere oder sie zu sehr in ihren Freiheiten eingeschränkt würden, finde er „befremdend“.
Die Gesellschaft in Deutschland puffere „in unglaublichem Maß“ die Begleitschäden für die Individuen ab. Als Beispiele nennt er die Möglichkeit von Kurzarbeit und das Angebot kostenloser Corona-Tests. In Bolivien bezahle er für einen Test umgerechnet 70 Euro. In Deutschland bekomme man „einen Service geboten, wofür ich woanders bezahlen muss und die Leute wertschätzen das nicht“, sagt er.
Beschützt worden
Wie er sich selbst in Bolivien vor Corona geschützt hat? Natürlich trage er eine Maske, aber er fahre ja mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Da komme es vor, dass sich jemand ohne Maske und Abstand neben einen setze. Auch im Gottesdienst müssten manche Besucher mehrfach darauf hingewiesen werden, Masken zu tragen. „Jemand anders hat mich da beschützt“, ist er sich sicher.
Anja Behringer
Die Radioredaktion des Medienhauses der Diözese Würzburg hat einen Beitrag über Pfarrer Müssig und seine Arbeit gemacht. Hier können Sie reinhören.