Evangelium
In jener Zeit zogen Jesus und seine Jünger durch Galiläa. Jesus wollte aber nicht, dass jemand davon erfuhr; denn er belehrte seine Jünger und sagte zu ihnen: Der Menschensohn wird in die Hände von Menschen ausgeliefert und sie werden ihn töten; doch drei Tage nach seinem Tod wird er auferstehen. Aber sie verstanden das Wort nicht, fürchteten sich jedoch, ihn zu fragen.
Sie kamen nach Kafarnaum. Als er dann im Haus war, fragte er sie: Worüber habt ihr auf dem Weg gesprochen? Sie schwiegen, denn sie hatten auf dem Weg miteinander darüber gesprochen, wer der Größte sei.
Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein. Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.
Markusevangelium 9,30–37
Jesus ist mit seinen Jüngern unterwegs. Er erzählt vom Reich Gottes, er lehrt sie, deutet an, was ihn in Jerusalem erwarten wird, spricht von Tod und Auferstehung. Die Jünger verstehen nicht, was er meint – wie auch? Aber sie haben Angst, nachzufragen.
„Die Situation ist typisch für viele Menschen, gerade in meiner Generation“, sagt Pater Franz Richardt (83). Auch wenn er selbst das nicht so erlebt hat: „Was in der Kirche gesagt wurde, musste man hinnehmen. Nachzufragen war selten erlaubt.“
Und das galt nicht nur für die Kirche. Pater Franz gibt ein Beispiel. „Ganz in der Nähe unseres Klosters und des Bildungshauses ist die Gedenkstätte Augustaschacht, wo im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiter gequält wurden“, erzählt er. „Als ich neu hier war, das war 2001, habe ich an einem Sonntag in der Predigt gefragt, was man von damals lernen kann. Hinterher haben Leute zu mir gesagt: Hier leben noch Menschen, die damals dabei waren. Danach dürfen Sie nicht fragen!“
Pater Franz hält das für grundfalsch. Im Gegenteil müssten wir Erwachsenen „das Fragen neu lernen“, sagt er und verweist dabei auf die Biologie, auf das menschliche Rückgrat. „In der normalen entspannten Körperhaltung ist die Grundfigur des Menschen das Fragezeichen“, sagt er. „Wenn wir immer nur als Ausrufezeichen durch die Gegend laufen, ist das gefährlich!“
Das kann man medizinisch verstehen, gesellschaftlich – heute wollen ja viele mit einfachen Ausrufezeichen Politik machen –, aber auch theologisch. „Die Kirche behauptet gerne, dass ...“, sagt Pater Franz. „Wichtiger als dogmatische Lehren über die Dinge, die wir nicht sicher wissen können, ist es aber, Fragen zu stellen.“
Das könnten die verschiedensten Arten von Fragen sein. „Auch Jesus hat viel gefragt“, betont Pater Franz und nennt „Was willst du, was ich dir tue?“ als Beispiel. „Jesus hat nicht immer alles sofort oder besser gewusst.“ Das sei durchaus ein Vorbild für die Kirche.
Stimmt das alles so, wie ich es als Kind gelernt habe?
Zu fragen, könne aber auch eine gute Form des Gebets sein. „In den Psalmen finden wir ganz viele Fragen, die die Beter Gott stellen: Wie lange noch verbirgst du dein Angesicht? Wann kommst du? Und natürlich die Frage, die Jesus aufgreift: Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, sagt Pater Franz. Er hält es deshalb für legitim, in schwierigen Situationen Gott Fragen entgegenzuhalten: „Fragen haben eine Kraft, die Gleichgültigkeit oder Zynismus nicht haben.“
Kraft haben solche existenziellen Fragen auch dann, wenn man keine Antwort bekommt, findet der Franziskaner. Auf andere Fragen gibt es aber sehr wohl Antworten: auf theologische Sachfragen. „Ich habe oft Einkehrtage von kirchlichen Gruppen oder Gemeinden begleitet“, sagt Pater Franz. Dabei sei es ihm nie darum gegangen, kluge Vorträge zu halten: „Vielmehr wollte ich immer eine Atmosphäre schaffen, dass die Leute sich trauen, Fragen zu stellen.“
Die kamen dann auch, denn dass im Glauben alles so ist, wie man es in der Kindheit gelernt hat, daran zweifeln auch ältere Katholiken. „Bei den Fragen war alles dabei“, sagt Pater Franz und nennt ein paar Beispiele: Ging Jesus wirklich über das Wasser? War das Grab am Ostermorgen leer? Warum gibt es vier Evangelien, die sich oft genug widersprechen? Kann ein Mensch, auch wenn er Papst ist, unfehlbar sein? Muss man beichten gehen?
Und wie beantwortet man solche Fragen? „Mit viel Zeit“, sagt Pater Franz. Einfach Ja oder Nein zu sagen, reiche natürlich nicht aus. „Aber wenn ich zum Beispiel erklärt habe, wie der Gang Jesu über das Wasser symbolisch zu verstehen ist, welche Bezüge diese Geschichte zu anderen biblischen Stellen hat und dass eine tiefe Glaubensaussage darin steckt, die für uns heute noch wichtig ist – dann konnten die meisten Leute gut mitgehen. Oft haben sie gesagt: So habe ich das noch nie gesehen!“
Natürlich konnten sie auch nachfragen. Oder widersprechen. „Wenn eine vertrauensvolle Atmosphäre da ist, dann kann man alles sagen und alles fragen“, ist Pater Franz überzeugt. „Man kann nie zu viel fragen.“ Obwohl das nicht allen leicht fällt. „Manche Leute tun sich einfach schwer damit, den erlernten Glauben zu hinterfragen“, sagt Pater Franz. „Sie sind in Not, weil sie denken: Wenn das alles nicht mehr stimmt, wo bleibe ich dann? Da geht innere Sicherheit verloren.“ Auch er selbst habe das im Theologiestudium erleben müssen: „Aber ich habe irgendwann gemerkt, dass ein neues Verständnis etwa der Bibeltexte ein Gewinn ist und zu einer größeren Weite führt, zumal der Kern des Glaubens ja nicht angetastet wird.“
Fragen werden uns begleiten, solange wir leben
Pater Franz vergleicht die Auseinandersetzung mit eigenen Glaubensfragen mit dem Schwimmenlernen. „Da ist man auch erst unsicher, ob man nicht untergeht. Aber irgendwann merkt man: Das Wasser trägt. Ich gehe nicht unter und gewinne sogar eine neue Freiheit.“
Für Pater Franz ist Fragen zu stellen auch kein Zeichen für Kritik am Glauben oder für Zweifel an Gott, sondern ein Zeichen für die Wichtigkeit des Glaubens. „Solange ich nach einer Antwort suche, solange bin ich in Anspannung, in Neugierde, im Wissensdurst, im Drang etwas zu erkennen“, sagt er und zitiert ein Gedicht von Tina Willms:
Ich stehe
auf schmalem Grat gespannt zwischen Himmel und Erde.
Aufrecht hält mich ein Fragezeichen.
Und trotzdem: Wir Menschen suchen nach Antworten, nach Gewissheiten. Wird das denn nie enden, das Fragen? Pater Franz sagt: „Fragen werden uns Menschen begleiten, solange wir leben.“ Hoffnung gibt ihm aber die Abschiedsrede Jesu im Johannesevangelium. Es heißt dort: „Ich werde euch wiedersehen. Und an jenem Tag werdet ihr mich nichts mehr fragen.“ (Johannes 16,22–23)
Susanne Haverkamp