„Die Diagnose ‚HIV-positv‘“, sagt Victoria, „kam für mich nicht überraschend.“ Seit Jahresbeginn 2004 habe sie sich oft schlapp gefühlt, kraftlos, schaffte kaum noch die Pflege ihres an Aids und Leberzirrhose erkrankten Mannes. „Wenn ich ihn sah, ahnte ich, was mit mir los war“, erinnert sie sich. „Auch meine jüngste Tochter Cinthia war oft krank, sie wuchs kaum noch.“ Nach dem Tod ihres Mannes im September 2004 durfte sie sich und ihre vier Kinder auf HIV testen lassen. Was sie geahnt hatte, war nun klar: Ihr Mann hatte sie mit dem HI-Virus angesteckt. Cinthia (10) und sie waren positiv, die älteren Drei hatten Glück gehabt. Mutter und jüngste Tochter gehören zu den zehn Prozent der Bewohner Malawis mit dem Tod im Blut.
Victoria ist eine schöne Frau. Keine dieser ausgemergelten Gestalten mit eingefallenen Gesichtern, die hohläugig auf Aids-Hilfe-Plakaten um Hilfe flehen. Ihre glatte Gesichtshaut schimmert in hellem Braun. Mit wachen Augen mustert sie ihre Umwelt. Gut, sie lächelt selten. Ihr Schicksal gab ihr bisher auch wenig Anlass dazu. Aber wenn es über ihr Gesicht huscht, dann ist es das Lächeln einer Frau, die schon viel im Leben mitbekommen hat, und bei weitem nicht nur Lustiges. Ein Lächeln, dem der Schmerz den Übermut nahm, aber es nicht wegwischen konnte.
Der Tiefpunkt der Diagnose HIV-positiv war zugleich ein neuer Anfang. „Seit ich regelmäßig Medikamente bekomme, geht es mir viel besser“, sagt sie, „und meine Tochter hat seitdem zugenommen, sie wächst auch wieder.“ Cinthia war seitdem nur noch einmal krank: Malaria. Dagegen half das bewährte Fansidar. Victoria nimmt das Medikament Trimune, das ihrem Körper hilft, besser mit den HI-Viren fertig zu werden. Bezahlt werden ihre Tabletten vom Staat. Das um vieles bessere Medikament Duovir kostet leider auch um vieles mehr. Deshalb kann der Staat nur etwa 20 Prozent der Infizierten damit versorgen. Wer ärmer ist, ist schneller tot. Victoria ist arm.
Neben den Tabletten hilft ihr die Aids-Gruppe von Mchinji, einem kleinen Städtchen nahe der Grenze von Malawi zu Sambia. Victoria engagiert sich in ihr als deren zweite Vorsitzende. Die Organisation „Home Based Care – Häusliche Pflege“ der Diözese Lilongwe fördert neben dieser elf weitere Selbsthilfegruppen, unterstützt von Missio München. „Bevor ich zu dieser Gruppe kam, fühlte ich mich oft sehr allein“, sagt sie, „hatte keinen Mut. In ihr fühle ich mich aufgehoben, habe mehr Anschluss, lerne, wie ich mit der Krankheit umgehen kann. Außerdem kann ich das, was ich in der Gruppe gelernt habe, an andere weitergeben, und das freut mich, wenn ich sehe, wie ich anderen helfen kann.“ Doch wer im Leben einmal unten ankam, der sitzt dort zumeist länger fest. „Für das Geld, das mein Mann und ich verdient hatten, kauften wir Medikamente für seinen Leberkrebs“, erklärt Patricia den Beginn ihrer derzeitigen Misere. Nach dessen Tod waren die Vorräte aufgebraucht. Aber die kleine Cinthia muss einmal im Monat mit dem Bus zum Kinderarzt in die rund 120 Kilometer entfernte Hauptstadt Lilongwe, das kostet Geld. Der 16-jährige Sohn ist mit der Sekundärschule fertig, würde gern weiter lernen, doch das scheitert an den Finanzen. Schließlich sind auch die beiden mittleren Mädchen, zwölf und 14 Jahre alt, noch in der Sekundärschule. Um etwas zu verdienen, verkauft Patricia am Straßenrand selbstgebackene kleine Kuchen. Außerdem handelt sie mit Schulheften und Bleistiften. Im Frühjahr kauft sie hundert Küken, zieht sie groß und bietet dann die Hühner zum Schlachten an. Ihr Haus, das sie mit ihrem Mann zusammen erbaut hat, musste sie mitsamt ihren Kindern verlassen. Sie hatten es auf dem Grund der Schwiegermutter gebaut, der nach den örtlichen Rechtsvorstellungen jetzt, nach dem Tode ihres Sohnes, das Haus gehört. Oma fand, das sei für sie und ihre leibliche Tochter eine passende Bleibe. Die berühmte afrikanische Solidarität existiert häufig nur in den Köpfen idealistischer Ausländer. „Die Gruppe wird meine Heimat bleiben“, sagt Victoria.
Doch auch diese Gruppe braucht eine Heimat. Das Mitglied Damiano Maleso (47) las zu Beginn der wöchentlichen Versammlung in der alten Kirche von Mchinji aus dem Johannesevangelium Kapitel 14, Vers 2 vor: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen.“ Eine dieser Wohnungen, da ist er sich sicher, „steht den HIV-Positiven offen. Wir sind alle positiv getestet“, sagt er, „aber wir können alle auf Gott vertrauen, bei ihm haben wir ein Zuhause.“ Mit einem Bibel-Teilen beginnen sie jede Versammlung. Auf der Basis des Glaubens begegnen sie sich, schöpfen Kraft für ihr Schicksal. Kein einfacher Weg für Victoria. Sie ist dankbar, dass sie ihn nicht allein gehen muss.