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Soldatenumbetter Erwin Kowalke gibt Gefallenen die letzte Ruhe
Knochenarbeit
Ein Bagger reißt die Erde auf, dann gräbt Erwin Kowalke den Toten aus. Um alle 222 Knochen zu finden, muss er behutsam vorgehen, darf den Boden nicht durchwühlen. Ein Paar Soldatenstiefel aus brüchigem Leder, Uniformreste – dann sucht er in der Hüftgegend des Skeletts nach persönlichen Gegenständen: vergilbten Liebesbriefen etwa oder einem Portemonee. Dinge, die der Tote zu Lebzeiten in der Hosentasche bei sich trug. Manchmal fällt ihm sogar noch ein Ehering in die Hände. Auch im Brustbereich dreht er jedes Steinchen um, wenn es sein muss, stundenlang. Er will die Erkennungsmarke des Gefallenen finden – denn nur die kann letzte Gewissheit über die Identität des Verstorbenen geben.
Kriegstote aufspüren, sie identifizieren, bergen und schließlich bestatten: Das ist die Aufgabe von Erwin Kowalke, Deutschlands einzigem Soldatenumbetter. Denn auch fast 60 Jahre nach Kriegsende werden noch über eine Million Soldaten und Zivilisten vermisst. Die meisten sind tot. Sie wurden damals in Massengräbern verscharrt, oder man ließ sie einfach auf dem Schlachtfeld liegen. Allein rund um Brandenburg hat Kowalke im Auftrag des Volksbunds Deutscher Kriegsgräberfürsorge seit 1990 bereits rund 5000 Gefallene aufgespürt. Schätzungsweise 10000 bis 20000 Opfer aus dem Zweiten Weltkrieg warten hier noch auf ihre Identifizierung. „Das liegt auch daran, dass zur DDR-Zeit die Bergung der Gefallenen kein Thema war“, erklärt Kowalke. Alles, was irgendwie im Zusammenhang mit der Wehrmacht stand, hatte den Ruf faschistisch zu sein – und wurde deshalb abgelehnt.
Wie blutgetränkt die Erde rund um Berlin ist, lässt sich heute angesichts der lieblichen märkischen Landschaft mit Seen, Feldern, Wiesen und Wäldern nur erahnen. Längst ist Gras über die Toten gewachsen. Meistens werden die Soldaten bei Munitionsbergungsarbeiten oder Baumaßnahmen per Zufall gefunden. Manchmal bekommt Erwin Kowalke auch einen Brief oder Anruf von Augenzeugen, die sich an Massenerschießungen oder Schlachtfelder erinnern. Dem geht er nach – mit Bagger und Schaufel und einem Sucher, der auf Eisen reagiert. Damit kann er auch ein Flugzeugwrack in fünf Meter Tiefe orten. Für den durchtrainierten 63-Jährigen ist sein ungewöhnlicher Beruf mehr als ein Job: Er will den Toten ihre Würde zurückgeben und – wenn möglich – den Angehörigen Gewissheit über das Schicksal der Vermissten. Das gelingt nicht immer: In nur der Hälfte aller Fälle findet Kowalke die Erkennungsmarke überhaupt. Und nicht immer ist sie lesbar.
Registriert wurden die Wehrmachtssoldaten zu Beginn des Krieges bei der Wehrmachtsauskunftstelle (WASt) in Berlin. Buddelt Kowalke eine Erkennungsmarke aus, gibt er die darauf eingestanzte Nummer an die WASt durch – und diese vergleicht die Daten mit den Listen im Archiv. Dann werden die Angehörigen informiert – falls sie noch leben. Auch Details aus der Zeit vor dem Krieg können bei der Identifizierung wichtig werden: ein Beinbruch beim Kirschen pflücken etwa oder ein Glasauge. Solche besonderen Kennzeichen wurden bei der Musterung registriert.
Kowalkes kleines Büro im brandenburgischen Bukow ist voll von Erinnerungen an die Toten: Soldatenfotos hängen an den Wänden, auf dem Schreibtisch stapeln sich Briefe von Angehörigen, die fast sechzig Jahre nach Kriegsende immer noch im Ungewissen über den Verbleib von Vater, Mann oder Bruder leben. In Kartons bewahrt Kowalke Militaria auf, die er während seinen Ausgrabungen findet: Koppelschlösser mit Reichsadler und Hakenkreuz, SS-Abzeichen, Offiziersauszeichnungen und Orden, manchmal deutlich vom Zahn der Zeit gezeichnet, manchmal noch ganz blank, als hätte der Besitzer sie gestern noch getragen. Diese Fundsachen sind meistens das einzige, was – außer Knochen – von den Soldaten übrig geblieben ist. „Das ist die Fratze des Krieges“, sagt Kowalke.
Vor allem die Briefe der Angehörigen gehen Erwin Kowalke nahe. „Die Leute klammern sich an jeden Strohhalm“, sagt er, während er den umfangreichen Stoß – obenauf ein Blatt mit zittriger Sütterlinschrift – durchblättert. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, dass man wenigstens den Todesort vermisster Angehöriger kennt: Sein Vater, den er nie kennen lernte, ist auf einem Soldatenfriedhof in Frankreich beerdigt. Jedes Jahr besucht er das Grab. Deshalb ist Kowalke bei seinen Ausgrabungen auch jedes Detail wichtig – wie ein Detektiv rekonstruiert er die Identität der Gefallenen, puzzelt die Informationen Stück für Stück zusammen, bis sich ein ungefähres Bild von dem Verstorbenen ergibt.
Eine Sisyphus-Arbeit“, findet Kowalke, der trotzdem seinen ganzen Ehrgeiz daran setzt, möglichst viel über den Toten herauszufinden: An der Färbung, Länge und Beschaffenheit der Knochen kann er Alter und Größe zum Zeitpunkt des Todes feststellen. An den Schuhen erkennt er, welche Nationalität der Tote hatte: Deutsche sind die einzigen, deren Sohlen mit Nägeln beschlagen sind, Italiener haben dagegen einen höheren Absatz. Auch die Zähne können über die gefundene Person Auskunft geben: „Russen haben im Vergleich zu deutschen Soldaten das gesündere Gebiss, aber die Oberfläche ist abgenutzter“, erzählt Kowalke. „Das liegt an den unterschiedlichen Nahrungsgewohnheiten.“
In seiner Garage hat der Soldatenumbetter einen kleinen unscheinbaren Sarg aus schwarzer Pappe mit den sterblichen Überresten eines Gefallenen „zwischengelagert“. Der ist nur halb so groß wie normalerweise und sieht aus wie ein Kindersarg, weil die Knochen übereinandergestapelt weniger Raum einnehmen. „Glatter Durchschuss“, sagt Kowalke, nimmt den Schädel in die Hand und deutet auf ein Loch im Hinterkopf. Berührungsängste darf er in seinem Beruf nicht haben – auch wenn seine Arbeit ihm zeitweise „ans Gemüt geht“: Manchmal sind die Gefallenen noch Kinder, 15-jährige Jungs, die erst kurz vor Kriegsende verpflichtet wurden. „Und einmal habe ich einen Soldaten gefunden, der seinen Oberschenkel mit einem Fahrradschlauch abgebunden hatte – und dann dennoch verblutet ist.“
In einem Pappsarg werden die Toten auch bestattet, wenn sie in Reih und Glied auf einem Soldatenfriedhof beigesetzt werden. Den Segen spricht Kowalke, falls der Pfarrer verhindert ist, notfalls selbst. Angst vor dem Tod hat er nicht – auch, wenn er täglich sieht, wie vergänglich der menschliche Körper ist. Er weiß, dass es jeden Moment vorbei sein kann – wie bei den gefallenen Soldaten, „die um ihr Leben betrogen“ wurden. Für den gläubigen Christen ist der Tod zwar das Ende vom Leben, „aber auch der Beginn der Ewigkeit“. Und dass der Tod zum Leben gehört, war Erwin Kowalke schon klar, als vor über 40 Jahren sein Arbeitsleben begann: Das erste, was er als junger Tischlergeselle baute, war ein Sarg.
Informationen zur Arbeit von Erwin Kowalke und dem Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge unter „www.volksbund.de“.
Kriegstote aufspüren, sie identifizieren, bergen und schließlich bestatten: Das ist die Aufgabe von Erwin Kowalke, Deutschlands einzigem Soldatenumbetter. Denn auch fast 60 Jahre nach Kriegsende werden noch über eine Million Soldaten und Zivilisten vermisst. Die meisten sind tot. Sie wurden damals in Massengräbern verscharrt, oder man ließ sie einfach auf dem Schlachtfeld liegen. Allein rund um Brandenburg hat Kowalke im Auftrag des Volksbunds Deutscher Kriegsgräberfürsorge seit 1990 bereits rund 5000 Gefallene aufgespürt. Schätzungsweise 10000 bis 20000 Opfer aus dem Zweiten Weltkrieg warten hier noch auf ihre Identifizierung. „Das liegt auch daran, dass zur DDR-Zeit die Bergung der Gefallenen kein Thema war“, erklärt Kowalke. Alles, was irgendwie im Zusammenhang mit der Wehrmacht stand, hatte den Ruf faschistisch zu sein – und wurde deshalb abgelehnt.
Wie blutgetränkt die Erde rund um Berlin ist, lässt sich heute angesichts der lieblichen märkischen Landschaft mit Seen, Feldern, Wiesen und Wäldern nur erahnen. Längst ist Gras über die Toten gewachsen. Meistens werden die Soldaten bei Munitionsbergungsarbeiten oder Baumaßnahmen per Zufall gefunden. Manchmal bekommt Erwin Kowalke auch einen Brief oder Anruf von Augenzeugen, die sich an Massenerschießungen oder Schlachtfelder erinnern. Dem geht er nach – mit Bagger und Schaufel und einem Sucher, der auf Eisen reagiert. Damit kann er auch ein Flugzeugwrack in fünf Meter Tiefe orten. Für den durchtrainierten 63-Jährigen ist sein ungewöhnlicher Beruf mehr als ein Job: Er will den Toten ihre Würde zurückgeben und – wenn möglich – den Angehörigen Gewissheit über das Schicksal der Vermissten. Das gelingt nicht immer: In nur der Hälfte aller Fälle findet Kowalke die Erkennungsmarke überhaupt. Und nicht immer ist sie lesbar.
Registriert wurden die Wehrmachtssoldaten zu Beginn des Krieges bei der Wehrmachtsauskunftstelle (WASt) in Berlin. Buddelt Kowalke eine Erkennungsmarke aus, gibt er die darauf eingestanzte Nummer an die WASt durch – und diese vergleicht die Daten mit den Listen im Archiv. Dann werden die Angehörigen informiert – falls sie noch leben. Auch Details aus der Zeit vor dem Krieg können bei der Identifizierung wichtig werden: ein Beinbruch beim Kirschen pflücken etwa oder ein Glasauge. Solche besonderen Kennzeichen wurden bei der Musterung registriert.
Kowalkes kleines Büro im brandenburgischen Bukow ist voll von Erinnerungen an die Toten: Soldatenfotos hängen an den Wänden, auf dem Schreibtisch stapeln sich Briefe von Angehörigen, die fast sechzig Jahre nach Kriegsende immer noch im Ungewissen über den Verbleib von Vater, Mann oder Bruder leben. In Kartons bewahrt Kowalke Militaria auf, die er während seinen Ausgrabungen findet: Koppelschlösser mit Reichsadler und Hakenkreuz, SS-Abzeichen, Offiziersauszeichnungen und Orden, manchmal deutlich vom Zahn der Zeit gezeichnet, manchmal noch ganz blank, als hätte der Besitzer sie gestern noch getragen. Diese Fundsachen sind meistens das einzige, was – außer Knochen – von den Soldaten übrig geblieben ist. „Das ist die Fratze des Krieges“, sagt Kowalke.
Vor allem die Briefe der Angehörigen gehen Erwin Kowalke nahe. „Die Leute klammern sich an jeden Strohhalm“, sagt er, während er den umfangreichen Stoß – obenauf ein Blatt mit zittriger Sütterlinschrift – durchblättert. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, dass man wenigstens den Todesort vermisster Angehöriger kennt: Sein Vater, den er nie kennen lernte, ist auf einem Soldatenfriedhof in Frankreich beerdigt. Jedes Jahr besucht er das Grab. Deshalb ist Kowalke bei seinen Ausgrabungen auch jedes Detail wichtig – wie ein Detektiv rekonstruiert er die Identität der Gefallenen, puzzelt die Informationen Stück für Stück zusammen, bis sich ein ungefähres Bild von dem Verstorbenen ergibt.
Eine Sisyphus-Arbeit“, findet Kowalke, der trotzdem seinen ganzen Ehrgeiz daran setzt, möglichst viel über den Toten herauszufinden: An der Färbung, Länge und Beschaffenheit der Knochen kann er Alter und Größe zum Zeitpunkt des Todes feststellen. An den Schuhen erkennt er, welche Nationalität der Tote hatte: Deutsche sind die einzigen, deren Sohlen mit Nägeln beschlagen sind, Italiener haben dagegen einen höheren Absatz. Auch die Zähne können über die gefundene Person Auskunft geben: „Russen haben im Vergleich zu deutschen Soldaten das gesündere Gebiss, aber die Oberfläche ist abgenutzter“, erzählt Kowalke. „Das liegt an den unterschiedlichen Nahrungsgewohnheiten.“
In seiner Garage hat der Soldatenumbetter einen kleinen unscheinbaren Sarg aus schwarzer Pappe mit den sterblichen Überresten eines Gefallenen „zwischengelagert“. Der ist nur halb so groß wie normalerweise und sieht aus wie ein Kindersarg, weil die Knochen übereinandergestapelt weniger Raum einnehmen. „Glatter Durchschuss“, sagt Kowalke, nimmt den Schädel in die Hand und deutet auf ein Loch im Hinterkopf. Berührungsängste darf er in seinem Beruf nicht haben – auch wenn seine Arbeit ihm zeitweise „ans Gemüt geht“: Manchmal sind die Gefallenen noch Kinder, 15-jährige Jungs, die erst kurz vor Kriegsende verpflichtet wurden. „Und einmal habe ich einen Soldaten gefunden, der seinen Oberschenkel mit einem Fahrradschlauch abgebunden hatte – und dann dennoch verblutet ist.“
In einem Pappsarg werden die Toten auch bestattet, wenn sie in Reih und Glied auf einem Soldatenfriedhof beigesetzt werden. Den Segen spricht Kowalke, falls der Pfarrer verhindert ist, notfalls selbst. Angst vor dem Tod hat er nicht – auch, wenn er täglich sieht, wie vergänglich der menschliche Körper ist. Er weiß, dass es jeden Moment vorbei sein kann – wie bei den gefallenen Soldaten, „die um ihr Leben betrogen“ wurden. Für den gläubigen Christen ist der Tod zwar das Ende vom Leben, „aber auch der Beginn der Ewigkeit“. Und dass der Tod zum Leben gehört, war Erwin Kowalke schon klar, als vor über 40 Jahren sein Arbeitsleben begann: Das erste, was er als junger Tischlergeselle baute, war ein Sarg.
Informationen zur Arbeit von Erwin Kowalke und dem Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge unter „www.volksbund.de“.