Herr Professor Unterburger, Sie sprechen vom „Ende der Volkskirche“. Heißt das, dass die Kirche dem Untergang geweiht ist?
Nein, sondern dass eine Form von Kirche, die viele aus ihrer Jugend kannten, an ihr Ende kommt. Sie hat vielen Beheimatung und Halt und Trost gegeben, andere hingegen empfanden sie als beengend und autoritär. Diese Form von Kirche hat sich mit allen ihren Stärken und Schwächen im 19. Jahrhundert ausgebildet.
Seit damals bestand in Deutschland eine „Volkskirche“. Was hat diese ausgezeichnet und warum konnte sie entstehen?
Die Kirche musste sich im 19. Jahrhundert, in der Auseinandersetzung vor allem mit dem Liberalismus, neu erfinden. Ein Netz von Institutionen entstand, die die Gläubigen mobilisieren und gegen die feindliche Umwelt wappnen wollten: Vereine und Verbände, kirchennahe Parteien, Zeitungen und Presse, aber auch Unterricht und Katechese. Es gelang, die meisten Katholiken zu mobilisieren, zu prägen und bei der Kirche zu halten. Dabei änderte sich die Frömmigkeit der meisten. Gemeinsame Überzeugungen wurden bewusster, persönliche Teilhabe am kirchlichen Leben wurde wichtiger. Anders als früher gab es jetzt eine bewusste und aktive Teilnahme am Gottesdienst, nicht mehr wie früher ein bloßes Dabeisein. Die Kirche des 19. Jahrhunderts erzog zur aktiven Mitfeier des Gottesdienstes. Ein stabiles katholisches Milieu entstand, das lange auch in den Städten und in der Arbeiterschaft erfolgreich gewesen ist. Volkskirche meint also quantitative Breite und gleichzeitig Intensivierung und Wandel der kirchlichen Frömmigkeit.
War die „Volkskirche“ ein deutsches Phänomen oder lässt sich ähnliches andernorts beobachten?
Im deutschen Gebiet waren diese Prozesse sehr stark ausgeprägt, aber ebenso in den Niederlanden oder in der Schweiz. Ähnliche Entwicklungen gab es aber nahezu überall, wo es größere katholische Bevölkerungsanteile gab.
Die Volkskirche hat sich lange behaupten können. Warum war sie so erstaunlich stabil?
Der Kirche war es gelungen, dass die Katholiken in ein festes Netz eingebunden waren, nicht nur in den Pfarreien, sondern auch über Verbände. Die Kirche prägte so die Weltanschauung der Menschen und das Milieu stabilisierte sie lange gegen weltanschaulich andere Gruppen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es dann Anzeichen für einen Niedergang der Volkskirche. Welche und warum zu diesem Zeitpunkt?
Mobilität, Lebensgeschwindigkeit und mediale Einflüsse nahmen zu, damit wurden viele Einflüsse außerhalb von Familie, Schule und Pfarrei wichtig, auf denen bislang die Glaubensweitergabe ruhte. Vor allem der ländliche Raum änderte sich radikal; ein neues Frauenideal erfasste viele Mütter. Das bürgerliche Ideal des 19. Jahrhunderts hatte dem Mann Berufstätigkeit zugeordnet, die Frau war dagegen für Haushalt, Kirche und Gefühle zuständig – und damit auch für die Glaubensweitergabe. In den Nachkriegsjahrzehnten setzte sich flächendeckend das Bild der berufstätigen Frau durch, hinzu kam in den Sechzigerjahren die Einführung der Pille. Das, was bislang funktioniert hatte und ein Schutzwall war, wirkte immer mehr miefig, eng, einschränkend, veraltet.
Hat es die Kirche in der Nachkriegszeit verpasst, sich selbst neu zu erfinden?
Es gab ja viele Versuche und auch viel Kreativität. Freilich haben sich auch kirchliche Strukturen besonders seit dem 19. Jahrhundert ausgebildet, die sich oft als hinderlich erwiesen. Und auch eine radikalere Form der Neuerfindung hätte die gesellschaftlichen Prozesse nicht wesentlich aufgehalten.
Gegenwärtig scheint die Kirche im Skandalstrudel zu versinken. Was wird denn an die Stelle der Volkskirche treten?
Die Kirche wird eine Minderheit werden. Wie man dies annimmt und welche Identität man neu ausbildet, das werden ganz wichtige Weichenstellungen sein. Vielleicht wird aber mit dem Niedergang von Einfluss und Macht auch eine neue Offenheit für die Kirche einhergehen können, wenn Verletzungen und Konflikte, die viele zu einer antikirchlichen Haltung geführt haben, seltener geworden sind.
Was bedeutet das Ende der Volkskirche für die drei großen kirchlichen Gruppen: Laien, Ordensleute und Priester?
Diese Prozesse betreffen alle Gruppen in der Kirche, wenn auch natürlich in einer unterschiedlichen Position. Wir werden zusammenrücken müssen und versuchen müssen, uns gegenseitig im Glauben zu stützen.
Interview: Ulrich Bausewein
Veranstaltungstipp: Professor Dr. Klaus Unterburger hält am 18. Februar um 17 Uhr an der Akademie Domschule den Online-Vortrag „Vom Anfang bis zum Ende der Volkskirche – Die Sozialform des deutschen Katholizismus in den letzten 200 Jahren“. Kostenfreie Anmeldung bis 16. Februar bei der Domschule, Telefon 0931/386-43111; Internet: www.domschule-wuerzburg.de.