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      Edith Petersen betreut Strafgefangene in Bolivien

      Kampf um ein Leben in Würde

      Edith Petersen betreut Strafgefangene in Bolivien
      Bolivien ist das Schwerpunktland der diesjährigen Adveniat-Aktion. Einerseits hat das geographisch höchst abwechslungsreiche Land im Herzen Lateinamerikas große natürliche Ressourcen. Andererseits leben in Bolivien rund 70 Prozent der Menschen in Armut. Vor allem die indigene Landbevölkerung hat kaum das Nötigste zum Überleben. Zwar hat das Land in Sachen Demokratie und Marktwirtschaft in den vergangenen zwanzig Jahren enorme Anstrengungen unternommen und – im Vergleich mit den anderen lateinamerikanischen Ländern – tief greifende Reformprozesse durchlaufen. Dennoch befindet sich das Land seit knapp drei Jahren in einer tiefen wirtschaftlichen Krise, die unmittelbare Auswirkungen auf die politisch-soziale Situation hat. Unermüdlich fordert die katholische Kirche von der Regierung ein entschiedenes Vorgehen gegen Korruption und Armut. Die Bildungs- und Gesundheitspolitik müsse verbessert, die Chancengleichheit und soziale Absicherung verstärkt und die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am politischen Leben gefördert werden. Mit unzähligen Initiativen versuchen Laien, Ordensleute, Priester und Bischöfe zudem direkt die Not der Menschen zu lindern und ihnen Zukunftsperspektiven zu verschaffen. Adveniat unterstützt die Kirche in dieser wichtigen Arbeit. Adveniat möchte unter dem Motto „Gottes Wort lebt. Durch Dich!“ den Blick der Öffentlichkeit in Deutschland auf die schwierige Lage Boliviens lenken und zeigen, wie sich die Kirche mit ihrer „Option für die Armen“ für die benachteiligten Menschen in dem südamerikanischen Land einsetzt.
       
      Kommandante Escobar sitzt in einer schmucklosen Wachstation, schlürft Kaffee und zieht an seiner Zigarette. Nebenbei blättert er lustlos in Gefangenenakten und studiert Gerichtsprotokolle von Raubmördern, Totschlägern und Auftragskillern. Auf dem Schreibtisch des Chefs über 600 Strafgefangene liegen selbst gebastelte Mordwerkzeuge: primitive Messer, Macheten, Stecheisen. „Alles von den Wärtern konfisziert“, erklärt der Kommandant des bolivianischen Hochsicherheitsgefängnisses „El Abra“. „Wenn es um Waffen geht, sind die Kriminellen sehr erfinderisch.“ Aber Victor Escobar duldet nicht, dass die Insassen ihre Konflikte mit angespitzten Schraubenziehern regeln oder Wärter mit scharfkantigen Dosenble-chen attackieren. Kein Gefängnis in Bolivien wird so streng überwacht wie „El Abra“. „Glaub mir“, so Escobar, „die Männer hier sind muy peligroso.“ Extrem gefährlich.
       
      Kaum zu glauben. Jedenfalls nicht an diesem Sonntagmorgen. Da stehen Straftäter, die ein paar Hundert Jahre Gefängnis abzusitzen haben, halten Notenblätter in den Händen und intonieren zu Gitarrenklängen „Sah ein Knab ein Röslein stehn“. Und mittendrin im Chor der Gefangenen singt eine Frau. Die Rentnerin Edith Petersen. Die 68-jährige aus Frankfurt stammende Katholikin kämpft für ein menschenwürdiges Leben innerhalb der Gefängnismauern. Sie ist Anwältin und Fürsprecherin der Gefangenen, Seelentrösterin und vielleicht sogar Mutter. Wenn sie in den Gefängnissen im bolivianischen Cochabamba auftaucht, geschieht etwas Merkwürdiges. Wie die Kletten kleben die Haftinsassen an ihr. Hartgesottene flehen um Hilfe, Killer werden zu Kindern. „Was die Männer alles auf dem Kerbholz haben, ist mir egal“, sagt sie. „Ich frage nicht danach.“ Blauäugig jedoch ist die Deutsche nicht. „Mir ist schon klar, dass die Gefängnisse hier keine Pensionate für keusche Mädchen sind.“
       
      Vor einigen Jahren noch dachte Edith Petersen nicht im Traum daran, einmal in den Gefängnissen der Millionen-Stadt Cochabamba ein- und auszugehen. „Ursprünglich kam ich nach Bolivien, um an einer Sprachschule Spanisch zu lernen“, erzählt sie. „Ich wollte im Kopf fit bleiben und in der Hauptstadt La Paz in einem kirchlichen Hilfsprojekt mitmachen.“ In ihrem bewegten Leben hatte Edith Petersen in England als Gerichtsstenografin gearbeitet, hatte Deutsch und Englisch unterrichtet, behinderte Kinder betreut. Zuletzt war sie 25 Jahre lang als Sozialarbeiterin für die Familien der US-Soldaten der Rhein-Main-Air-Base in Frankfurt zuständig.
       
      Dann kam die Rente. „Die Aussicht, mich mit Damen meines Alters über Friseurtermine, Kochrezepte und den neuesten Klatsch aus der Regenbogenpresse zu unterhalten, schien mir wenig attraktiv.“ Stattdessen schloss sich die allein stehende Pensionärin einer kleinen Gemeinschaft engagierter christlicher Frauen namens „Cristo vive“ an. Vor vier Jahren stand sie zum ersten Mal auf der „Plaza Principal“ im kolonialen Stadtzentrum von Cochabamba.
       
      Bei ihrem ersten Besuch war Edith Petersen geschockt. „Dreck, Ratten und apathische Menschen hinter Gittern. Die Zellen waren mit über 200 Männern voll gestopft. Viele Häftlinge rasteten aus, stachen ihre Companieros mit Stiletten nieder und brachten sich selber tiefe Wunden bei.“ Ohne Aussicht auf medizinische Hilfe krepierten die Gefangenen vor den Augen ihrer Wärter. Sie spuckten Blut von offener Tuberkulose, starben an vereiterten Zahnentzündungen, an chronischem Durchfall und Wundbrand oder verbluteten mit aufgeschnittenen Pulsadern. Damals machten die Polizisten Edith Petersen lakonisch mit einem elementaren Gesetz des Gefangenendaseins bekannt: „Kein Geld, kein Arzt.“
       
      Ich habe mich schrecklich gefühlt“, sagt die „Hermana“. Doch das lag nicht an den verwahrlosten Häftlingen und auch nicht an der braunen Brühe, die aus kaputten Abflüssen in die Zellen tropfte. Vielmehr war Edith Petersen von der menschlichen Gleichgültigkeit schockiert. Nur manchmal schauten einige irische Schwestern in den Gefängnissen vorbei, die den hungrigen Insassen Brötchen durchs Gitter reichten.
       
      Als ich das sah, wusste ich, hier ist eine weitreichendere Hilfe nötig.“ Edith Petersen ging zur Gefängnisleitung und protestierte gegen die Zustände in der Haftanstalt. Doch die Staatsdiener zuckten nur gelangweilt mit den Schultern. Immerhin gestatteten sie der rührigen Frau, ihre Rente für die Gefangenen auszugeben. Edith Petersen kaufte Duralitplatten, um die Dächer abzudichten, besorgte Decken und Matratzen und stellte elektrische Kochplatten in die Zellen, „damit die Männer mal was Warmes kochen können“. Denn dem bolivianischen Staat ist die Ernährung seiner Gefangenen nicht viel wert. Zwei Bolivianos, etwa 30 Cent, pro Mann und pro Tag müssen in „El Abra“ reichen. Wer hier hinter Stacheldrahtmauern landet, heißt es, darf vom Leben nichts mehr erwarten. In den zehn Gefängnissen von Cochabamba hausen über 3000 Männer und Frauen.
       
      Das Delikt ist fast immer dasselbe“, sagt Edith Petersen, „Narcotrafico, Drogenhandel.“ Denn zwei Autostunden von Cochabamba entfernt liegt der „Chapare“, eines der größten Kokaanbaugebiete Südamerikas. Wer als Kurier mit Kokapaste gefasst wird, wandert jahrelang hinter Gitter. „Ohne Prozess, ohne Anwalt, ohne Rechte“, so Edith Petersen. Dafür kann Bolivien bei der Verbrechensbekämpfung mit eindrucksvollen Statistiken aufwarten. Alfredo Jimenez, der wegen Kokainhandels zehn Jahre absitzen muss, hat für seine drastische Strafe seine eigene Erklärung: „Die USA sind schuld. Die machen politischen und wirtschaftlichen Druck, weil sie ihr Problem mit den Drogen in Bolivien lösen wollen. Deshalb sind die Strafen hier viel härter als in Amerika.“ Richtig ist zumindest, dass es für die bolivianische Justiz keine Rolle spielt, ob jemand mit ein paar Gramm oder mit hundert Kilo Kokabase verhaftet wird. „Wenn einer der wirklich großen Geschäftemacher gefasst wird“, so Edith Petersen, „legt er ein Bündel Dollar auf den Tisch und ist frei. Eingesperrt werden nur die armen Schlucker.“
      Die Folge: alle Gefängnisse sind hoffnungslos überbelegt. „An das miserable Essen gewöhnt man sich“, klagen die Frauen in der örtlichen Frauenhaftanstalt, „aber nicht an die vielen Ratten, das Ungeziefer und die fürchterliche Enge. Keine Sekunde kann man für sich allein sein.“ In dem maroden Backsteinbau auf einer Grundfläche so groß wie zwei, drei Tennisplätze, müssen zehn Toiletten für 500 Frauen reichen. Hinzukommen 300 Kinder, die bei ihren Müttern leben. Im letzten Jahr stieg die Zahl der Geburten plötzlich an. Viele der inhaftierten Frauen waren unerwartet schwanger geworden. Ein Skandal flog auf. „Das Frauengefängnis von Cochabamba entpuppte sich als das größte und billigste Bordell der Stadt“, erzählt Edith Petersen. 15 wachhabende Polizistinnen, die nachts die Freier in die Zellen schleusten und von den Frauen Schmiergeld kassierten, wurden vom Dienst suspendiert. Die Gefängnisleitung, die an der finanziellen Not der Frauen mitverdiente, wurde gefeuert.
       
      Dass die Zustände in den Gefängnissen endlich Konsequenzen für die Verantwortlichen haben, ist auch ein Verdienst von Edith Petersen. Sie ist längst nicht mehr die geduldete Rentnerin, die mit ein paar warmen Wolldecken unterm Arm an die Gefängnistore klopft. Ihre Hilfe ist professioneller geworden. Finanziell unterstützt von deutschen Katholiken über die Bischöfliche Aktion Adveniat hat Frau Petersen mit Sozialarbeitern, Rechtsanwältinnen, Ärzten und einem Gefängnispsychologen ein Netzwerk der Gefangenenseelsorge aufgebaut. Das Engagement hat sich herumgesprochen. Auch bei Kommandante Escobar. Er hat erkannt, dass allein durch schwer bewaffnetes Wachpersonal die Probleme in seinem Hochsicherheitsgefängnis nicht zu lösen sind.
       
      Seit Edith Petersen regelmäßig „El Abra“ besucht, erwachen immer mehr Häftlinge aus ihrer dumpfen Lethargie, die oft in unkontrollierte Aggression umschlägt. Sie singen im Chor, proben gemeinsam Theaterstücke ein oder gehen zum sonntäglichen Gottesdienst. „Natürlich werden aus Wölfen keine lammfrommen Schafe“, sagt Edith Petersen. „Aber es tut gut zu sehen, dass Menschen, die ganz Unten gelandet sind, aufstehen und um ein Leben in Würde kämpfen.“