Das Johannes-Evangelium gibt seine eigene Deutung. Es vergleicht den ans Kreuz gefesselten Jesus mit der Kupferschlange des Mose. In der Todesbedrohung dieser Welt wird Jesus zum wirkmächtigen Zeichen, das uns heilen kann.
Evangelium
In jener Zeit sprach Jesus zu Nikodemus: Niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist: der Menschensohn. Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, in ihm das ewige Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. Johannes 3,13-17 Ich bin viel im Wald unterwegs, aber eine richtige Schlange ist mir dabei noch nie begegnet. Schlangen sind selten geworden in unseren Breiten und wohl auch eher scheu. Im Zoo allerdings sind sie noch zu finden, dort drücken sich die Kinder die Nasen platt an den Scheiben der Reptilienhäuser und staunen mit einem Kribbeln auf der Haut die mächtigen Gift- oder Würgeschlangen an. In unserer Phantasie sind die Schlangen noch sehr lebendig und gegenwärtig! Schlangen übten schon immer auf die Menschen eine magische Anziehungskraft aus: Schön und gefährlich zugleich sind sie, faszinierend und erschreckend. Sie können (was uns leider nicht gelingt) ihre alte Haut abstreifen und sind daher Symbol des neuen und sich erneuernden Lebens. Viele tragen aber auch ein Gift in sich, das für Mensch und Tier den Tod bedeutet. Dieses Geheimnis von Leben und Tod um die Schlange machte sie im alten Orient zu einem mächtigen Zeichen und zu einem Zeichen der Macht, das zum Beispiel der ägyptische Pharao als geflügelte Kobra an seiner Stirn trug. Ein mächtiges Zeichen über Leben und Tod ist auch die kupferne Schlange, die Mose auf Geheiß Gottes an einem Stab befestigt und hoch hält: Wer von der Giftschlange gebissen wurde und zu ihr hinaufschaute, wurde vom Tod gerettet, erzählt die Geschichte. Eine Art archaischer Gegenzauber wird damit beschrieben. Inmitten der Lebens-Bedrohung durch die Schlangenplage in der Wüste, inmitten von Verwirrung und Todesangst hilft es nichts wegzuschauen oder gar wegzulaufen, die Schlangen und die von ihnen ausgehende Gefahr nicht wahrhaben zu wollen. Nur das eine hilft: die Schlange ganz bewusst anzusehen, ihre Macht anzuerkennen – aber daran zu glauben, dass die lebenserhaltende Macht Gottes größer ist als die Macht der Schlange, und dass es Rettung gibt für diejenigen, die darauf vertrauen. Für die johanneische Gemeinde ist Jesus zu einem solchen machtvollen Zeichen geworden, zu einem Heilmittel gegen den Tod. Auch ihre Ausgangssituation ist bedrohlich, von allen Seiten in die Enge gedrängt und durch die römische Besatzung und die Kriege in Judäa auch ganz real lebensgefährlich. Und der Glaube an einen Messias, der erniedrigt und elend am Kreuz hingerichtet worden war, konnte bei vielen ihrer Zeitgenossen wohl bestenfalls Kopfschütteln provozieren. Nun ja, leugnen konnte (und wollte) niemand aus den christlichen Gemeinden den Skandal des Kreuzes – aber wie konnte man dieses Furchtbare verstehen? Das Johannes-Evangelium gibt seine eigene Deutung. Es vergleicht den ans Kreuz gefesselten Jesus mit der Kupferschlange des Mose. In der Todesbedrohung dieser Welt wird Jesus zum wirkmächtigen Zeichen, das uns heilen kann. Wer auf Jesus sieht und glaubt, wird gerettet. Aber der erhöhte Jesus ist kein kupferner Fetisch und auch kein mächtiger Pharao, sondern ein galiläischer Bauhandwerker, der dem Anschein nach mit seiner Lebensidee scheitert und grausam hingerichtet wird. Das stellt alle Maßstäbe dieser Welt auf den Kopf! Dieser gekreuzigte, erniedrigte Jesus ist der „Gegenzauber“ gegen alles, was uns in diesem Leben Angst macht und bedroht. Wer auf ihn schaut, der verschließt seine Augen nicht vor dem Leid und der Ungerechtigkeit, vor dem Schmerz und dem Scheitern, sondern sieht hin und erkennt das, was wirklich und letztlich mächtig ist – nämlich Gottes Liebe. Wer auf Jesus mit den Augen des Herzens schaut und an ihn glaubt, der vertraut auf die Lebensmacht Gottes, der will, dass wir nicht zugrunde gehen – ja, dass der ganze Kosmos gerettet wird. Die Entscheidung darüber liegt bei uns: Ob wir die Maßstäbe der Welt übernehmen und die Augen abwenden vom Gekreuzigten (und allen Gekreuzigten der Geschichte) – oder ob wir sehen und glauben, dass gerade dort in der Erniedrigung Gottes Macht aufscheint, die die Macht des Todes bricht, ein für alle Male. Die Autorin ist Bildungsreferentin im Bildungshaus Schmerlenbach.