Richtschnur des Glaubens ist für Irenäus die Überzeugung: Es gibt nur einen Gott, der alles durch sein Wort erschaffen hat, und einen einzigen Christus, Gottes Sohn.
Der Adler erreicht mit der Kraft seiner Schwingen gewaltige Höhen. Auch deshalb haben die Menschen den Greifvogel immer wieder verklärt. Die griechische Sagenwelt stellt den Adler dem Göttervater Zeus an die Seite. Und viele christliche Texte vergleichen den Adler mit dem gottschauenden Menschen. So erklärt es sich, dass der Adler auch das Erkennungszeichen der neuen Sonntagsblatt-Serie „Mittler des Glaubens“ ist. Das von dem Grafiker Franz Grundler entworfene Logo zeigt den Vogel in den Strahlen des göttlichen Lichts. Passend dazu stellt die Serie „Mittler des Glaubens“ ab der Printausgabe Nr. 6 vom 5. Februar 2012 (Seite 8) Personen vor, die mit Tat- und Gedankenkraft nach Gott gesucht und ein geistig-intellektuelles Glaubensgebäude geschaffen haben. Wie ihre Zeitgenossen waren die Mittler des Glaubens weder von Irrtum noch von Fehlverhalten frei. Doch mit ihrer Bereitschaft, Gott nachzuspüren, schlugen sie Wege ein, auf denen ihnen viele andere folgten. Die Serie startet mit den christlichen Denkern der Antike, darunter Irenäus, Origenes und Hieronymus. Mit Augustinus, Hildegard von Bingen, Thomas von Aquin und vielen anderen zeichnet sie die mittelalterliche Geistesgeschichte nach. Martin Luther, Philipp Melanchthon und Jean Calvin stehen am Ende dieser Epoche, der die Reformation und die Glaubenskämpfe folgen. Für die Gottsuche im Zeitalter der Aufklärung und der Ideologien des 20. Jahrhunderts stehen unter anderem die Glaubensmittler Johann Michael Sailer, Friedrich Schleiermacher, Ignaz von Döllinger, Herman Schell, Edith Stein, Dietrich Bonhoeffer und Karl Rahner. Im zweiten Jahrhundert nach Christus stand die junge christliche Kirche vor einer großen Herausforderung: Die „Gnosis“ zog mit ihrem Anspruch, die vollkommenere Erlösungsreligion zu sein, die Menschen an. Als Gegner der sogenannten „Gnostiker“ trat der Bischof Irenäus von Lyon (um 140–200) auf.
Die Gnosis
„Gnosis“ bedeutet: Erkenntnis, Wissen. Besonders erleuchtete spirituelle Führer geben ihr Wissen an diejenigen weiter, die sich den Regeln des Aufstiegs in eine höhere Existenzform unterwerfen. Der Mensch ist nach Ansicht der Gnostiker prinzipiell gefangen in der bösen materiellen Welt und in seinem irdisch-körperlichen Leben. Nicht nur im Kosmos wird ein Kampf zwischen Gut und Böse ausgetragen, der Mensch selbst erleidet diesen Kampf in seiner Seele, seinem Körper und seinem Schicksal. Um diesem Gefängnis zu entkommen, muss der Suchende selbst Teil einer mächtigen Gottheit werden. Diese Fähigkeit entwickeln jedoch nicht alle. Deshalb teilt die Gnosis die Menschen nach der Stufe ihrer Erkenntnis ein: Auf unterster Stufe stehen diejenigen, die dem Sichtbaren und Irdischen verhaftet sind. Eine Stufe höher stehen die, welche sich zwischen materieller Welt und geistigen Prinzipien bewegen. Die Vollkommenen jedoch sind die „Pneumatiker“, die Wissenden, denen Macht und Führung zusteht, da sie zu höchster Erkenntnis gelangt sind. Gott selbst ist gespalten in einen oberen guten Gott und einen unteren bösen Schöpfer der sichtbaren Welt. Der Kampf um die Macht wird in Gott selbst ausgetragen. Irenäus und der Christus–Glaube
Irenäus wuchs in Smyrna (heute: Izmir) auf. Er erlebte, dass die christliche Kirche schon „oikoumenisch“ war, das heißt: über den ganzen damals bekannten Erdkreis verbreitet. Wohl im Jahr 177 wurde Irenäus Bischof von Lyon. Weshalb er nach Südgallien ging, wissen wir nicht. Auch kennen wir keine Details seines Lebens. Dass Irenäus als Märtyrer starb, wie zeitweise behauptet wurde, dürfte nicht stimmen. Was ist nun für Irenäus die Mitte seines Glaubens? Wie begegnet er dem Angebot der Gnosis, mittels exklusiver Erkenntnis ein besserer Mensch zu werden? Richtschnur des Glaubens ist für Irenäus die Überzeugung: Es gibt nur einen Gott, der alles durch sein Wort erschaffen hat, und einen einzigen Christus, Gottes Sohn. In seinem Werk „Adversus Haereses“ (Gegen die Häresien) führt Irenäus aus, dass Christus die menschgewordene Liebe Gottes ist. Er hat die Menschen erlöst, ohne zu fordern, dass sie sich erst durch besondere Vergeistigung aus dieser bösen Welt herausarbeiten. Gott ist gut, er ist nicht in sich gespalten. Er bekämpft weder sich noch den Menschen noch die Schöpfung. Für den Menschen wirkt der dreifaltige Gott das ewige Leben. Irenäus wird nicht müde, Menschenliebe und Langmut Gottes zu preisen. Christus wurde Mensch, um den Menschen daran zu gewöhnen, Gott aufzunehmen und Gott zu „schauen“ (Mt 5,8). Gott wird in seiner Liebe erkennbar, nicht in einer hochkomplizierten Konstruktion von Welt, Mensch und unzähligen widerstreitenden Kräften. Im Kontakt mit anderen Menschen, in Worten und Handlungen ermöglicht der Mensch, der Gottes Güte an sich heranlässt, anderen eine Ahnung von Gott. Nun könnte das wie eine Überforderung klingen – wer schafft es schon, allzeit gütig zu sein. Irenäus sagt, dass der Mensch erst zum Bild Gottes „wird“. Der furchtbare Druck, alles Irdische ganz hinter sich lassen zu müssen und völlig vergeistigt zu leben, wird weggenommen. Niemand muss zu einem perfekt funktionierenden Gott werden. Gott formt das Herz, wenn der Mensch es zulässt, nach seinem Bild. Vergöttlichung des Menschen
„Nicht du machst Gott, Gott macht dich. Warte auf die Hand deines Künstlers … verhärte nicht …“ (Adversus Haereses). Wie sehr wir immerfort von Gott gestaltet und in sein Bild verwandelt werden, beschreibt Irenäus im Licht-Gleichnis: Das Licht zwingt niemanden, drängt sich niemandem auf, es ist einfach da. Ebenso ist Gott. Er gibt uns Atem und Leben. Denen, die sich rückhaltlos zu ihm flüchten, gibt er Licht, das heißt: alles Gute. Er schenkt Gemeinschaft mit sich und „vergöttlicht“ den Menschen. „Vergöttlichung“ bedeutet: Der Mensch wird zum erbberechtigten „Sohn Gottes“. Er kehrt zurück aus seiner Verlorenheit, in der Christus ihn gesucht und zum Vater zurückgebracht hat. Im klaren Gegensatz zu den Gnostikern heißt das für die Anhänger Christi: In der Gemeinschaft der Glaubenden gibt es nicht Bessere, Bevorzugte, Erleuchtete. Auf der anderen Seite gibt es auch nicht Niedere, „Dumme“, die sich noch mit Arbeit, Familie und Sorgen abquälen müssen, weil sie es nicht geschafft haben, sich hochzuarbeiten.