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Hirte im Land der Bibel
Der alte Felache bläst eine Rauchwolke in die kühle Morgenluft. Mit einem lauten Pfiff ruft er zwei Schafe zurück, die sich zu weit von der Herde entfernt haben. Als sie nicht parieren, wirft er einen Stein in ihre Richtung – die Tiere kehren gemächlich um. Am Horizont erscheint die Sonne langsam wie eine brennende Kugel und taucht die dürren Hügel nordöstlich von Jerusalem in fahles Licht. Das Tote Meer tief unten im Südosten hüllt sich an diesem Tag in Dunst, aber die Berge Jordaniens zeichnen sich scharf von dem hellen Morgenhimmel ab. In Taybeh, dem einzigen fast ausschließlich von Christen bewohnten Dorf des Westjordanlandes, läuten die Kirchenglocken um sechs Uhr die Lourdes-Melodie. Taybeh, in der Region bekannt für sein nach deutschem Reinheitsgebot gebrautes Bier und sein unvermeidlich damit verbundenes Oktoberfest, gilt als das biblische Ephraim: Hier soll Jesus sich nach der Auferweckung des Lazarus vor seinen Verfolgern verborgen haben, weshalb die palästinensisch-christlichen Bewohner sich stolz als Nachfahren der damaligen Freunde des Gottessohnes bezeichnen. Das hat den kleinen Ort im von Israel kontrollierten Westjordanland allerdings nicht vor dem allgemeinen Exodus der Christen aus dem Heiligen Land bewahrt – nach Auskunft des katholischen Pfarramtes leben mittlerweile 8000 Taybehrianer im Ausland und nur noch 1300 im Ort selbst. Faies Khourie ist schon seit einer Stunde auf den Füßen. Er ist der letzte Hirte seines Dorfes, und vielleicht auch der letzte christliche Hirte überhaupt im Heiligen Land. Zumindest kennt er keinen anderen mehr. In Bethlehem und seinem Vorort Beit Sahour bei den biblischen Hirtenfeldern sind die alten Hirtenfamilien längst auf das lukrativere Fremdengewerbe oder andere moderne Berufe umgestiegen. Auch er selbst hatte zwischendurch aufgegeben und sich einige Jahre als Metallarbeiter verdingt, aber dann kehrte er reumütig zu dem Beruf seiner Vorfahren zurück. Die Khouries waren Hirten soweit man zurückdenken kann, das Leben mit den Schafen und Ziegen liegt dem Palästinenser einfach im Blut. Der wortkarge Mann setzt sich ins trockene Gras und zündet eine weitere Zigarette an. Was er so macht, während die Herde weidet? Das sonnenverbrannte Gesicht unter der weißen Kefiya deutet ein Lächeln an: Manchmal hört er Radio, die Nachrichten. Jetzt ist das Ding aber kaputt. Er denkt nach. Über das Leben. Und über die Situation. Nein, Schwierigkeiten politischer Art hat er persönlich nicht. Er verlässt das Dorf ohnehin kaum. Nur auf dem einstigen Weideland auf dem Hang gegenüber dürfen seine Tiere nicht mehr grasen, seit dort 1977 die israelische Siedlung Rimmonim errichtet wurde. Das gäbe Ärger. Heute hat Khourie nicht viel Zeit zum Nachdenken – er bekommt Besuch. Der katholische Pfarrer, den hier alle nur „abouna“ (unser Vater) nennen, kommt heraufgestapft. „Ich liebe die Hügel“, verkündet Raed Abushalia und fügt mit einem verschmitzten Blick auf die benachbarte Siedlung hinzu: „Wie die Juden.“ Außerdem findet der Seelenhirte bei dem Schafhirten einige Inspiration für seine eigene Arbeit: „Er kennt jedes einzelne Tier und ruft es bei seinem Namen“, sagt er begeistert. „Und hier versteht man auch, warum beim Jüngsten Gericht Gute und Schlechte getrennt werden wie die Schafe und die Ziegen – die Ziegen gehorchen einfach nicht.“ Die Sonne steigt langsam höher. Hier oben gibt es kaum Büsche oder Olivenbäume, um sich vor ihr zu schützen. Die Herde beginnt sich gemächlich zu sammeln – insgesamt 55 Tiere hat der Hirte, die Lämmer sind im Stall geblieben. Mittlerweile ist es Zeit für die Mittagspause, Khourie geht seiner Herde voran zu einem Verhau und den ausladenden Ästen einer kleinen Kiefer. Während die Tiere dort im Schatten dösen, wandert der Hirte zurück zu dem Doppelhaus am Dorfrand, das er mit seiner jungen Frau, den fünf Kindern, seiner betagten Mutter und der Familie seines Bruders bewohnt. Nach dem gemeinsamen Essen gönnt er sich ein Schläfchen: Am Nachmittag wird er wieder mit den Tieren losziehen und erst gegen 22 Uhr nach dem Melken Feierabend machen. So ein Leben im Rhythmus der Natur ist hart, und der Lohn ist knapp – vor allem weil in den letzten Monaten zu wenig Regen gefallen ist und Khourie viel Futter zukaufen musste. Auf seinen Weidehügeln, die „irgendwelchen Leuten im Dorf gehören, denen es egal ist, ob die Tiere hier grasen“, hat er zusätzlich Hafer ausgesät. Dafür musste er Schulden aufnehmen, die er nun mit den Einnahmen aus dem Verkauf seiner Milchprodukte abstottert. Seine Frau Hala stellt aus der Milch Butter, den arabischen Joghurt Labne und eine sahnige Buttermilch her, dazu Frischkäse und verschiedene Hartkäsesorten. Wer einkaufen will, klingelt einfach an der Haustür des Hirten. Und das, so der Felache, sind nicht nur die Dorfbewohner, sondern immer wieder auch Besucher – zum Beispiel nach Amerika ausgewanderte Taybehrianer auf Heimatbesuch: „Es ist für sie ein Stück Nostalgie, wenn sie die ursprünglichen Produkte ihrer Vorfahren essen können.“ Besonders profitieren die Khouries jedoch von einer uralten, archaischen Tradition. Neben der westlich-katholischen, der orthodoxen und der melkitischen Pfarrkirche gibt es in Taybeh ein Gotteshaus, das allen Konfessionen gemeinsam gehört – die Überreste der byzantinischen Kirche Sankt Georg aus dem vierten Jahrhundert. Der Opferlamm-Ritus, der dort bis heute unter schweigender Duldung der Ortskirchen zelebriert wird, geht auf kanaanäische Zeit zurück: Hat jemand ein dringendes Anliegen, legt er das Gelübde ab, bei Erhörung ein Lamm vor den Ruinen schlachten zu lassen. Mit dem Blut wird in Anlehnung an die Exodus-Geschichte des Alten Testaments ein Kreuzzeichen oder ein Händeabdruck an den Türrahmen gemalt. Das Fleisch wird an Bedürftige verschenkt. Die Opferlämmer werden oft bei Faies gekauft. Auch der Hirte selbst hat einmal die himmlische Hilfe mit einem solchen Gelübde erfleht, als nämlich seine Herde über Nacht aus dem Stall gestohlen worden war. Kurz darauf tauchten die Schafe wieder auf. Trotz aller Liebe zur Tradition – der Zukunft sieht der Hirte Khourie eher nüchtern entgegen. Seinen Kindern bezahlt er eine solide Schulbildung. Hoffnung, dass einer der drei Söhne irgendwann in seine Fußstapfen treten wird, hegt er kaum: Schon jetzt zeigen sie kein sonderliches Interesse daran, dem Vater bei seiner harten Arbeit zu helfen. Auch das abendliche Melken – von Hand bis zu eineinhalb Liter pro Schaf – muss er alleine stemmen. Darum breitet sich ein breites Lächeln über das runzelige Gesicht des Hirten aus, als Abouna Raed ihm eine Melkmaschine verspricht: Schließlich, erklärt der umtriebige Pfarrer, sei der letzte christliche Hirte im Heiligen Land doch so etwas wie eine Verpflichtung für die Christenheit.