Lage, Ausstattung und Atmosphäre – das Haus Mirjam im Schöllkrippener Ortsteil Ernstkirchen ist ein Idyll. Aber viele Jugendliche beziehungsweise junge Frauen hier hatten bis dahin alles andere als einen beneidenswerten Weg: aufgewachsen in schwierigen familiären Verhältnissen, häufig diskriminiert als lernbehindert oder gehandicapt. Von hier aus können sie fachlich angeleitet und sozialpädagogisch begleitet in ein selbstständiges und verantwortungsbewusstes Leben starten. Die Grundlage dafür schuf der weitblickende örtliche Pfarrer Andreas Engert schon vor 165 Jahren durch eine Stiftung als „Katholische Rettungsanstalt für Mädchen“; zunächst wurden etwa 20 Kinder, die gefährdet waren zu verwahrlosen, gepflegt, erzogen und zum Schulbesuch angehalten. Seit nunmehr 25 Jahren heißt die Stiftung „Haus Mirjam“. Sie ist Träger einer Mutter-Kind-Einrichtung mit Kinderkrippe und „Verselbständigungswohnung“. Außerdem unterstützt sie mit einer Maßnahme der Agentur für Arbeit Jugendliche in der Berufsvorbereitung oder Ausbildung zur Fachpraktikerin in der Hauswirtschaft. Dazu leben sie im angeschlossenen Internat oder einer heilpädagogischen Gruppe.
Einrichtung für Mutter und Kind
Die Stiftung begeht heuer zwei weitere Jubiläen: Vor 15 Jahren konnten die ersten Bewohnerinnen der neu errichteten Mutter-Kind-Einrichtung einziehen, und gar schon vor 200 Jahren wurde die damalige Schule erbaut, die heute liebevoll renoviert und passend eingerichtet als Tagescafé und somit Teilnehmerinnen der Berufsvorbereitung oder Auszubildenden als Erprobungsort dient. Durch den Gastronomiebetrieb besteht ein ständiger Kontakt zwischen den „Mirjamerinnen“ und der Bevölkerung. Diese nimmt immer zahlreich die Einladung zum jährlichen Mirjamfest an. Und in diesem Jahr findet der Schöllkrippener Weihnachtsmarkt erstmals im Innenhof des Hauses Mirjam statt, und zwar am 30. November ab 15 Uhr.
Begleitung rund um die Uhr
Die Diplom-Sozialpädagogin Sabine Jung-Schäfer leitet die Mutter-Kind-Einrichtung im Haus Mirjam. Jedes ihrer Worte klingt behutsam und einfühlsam. Sie kommt allerdings auch ohne Beschönigung auf den Punkt: „Für die meisten unserer Frauen beziehungsweise jungen Mamas ist es besser, nicht mehr in ihrer Familie zu leben und auch nicht mehr in den engeren Kreis zurückzukehren.“ Gewalt durch Vater, Mann oder Freund kann einer der Gründe sein. Ebenso Erfahrungen mit Abhängigkeit von Alkohol bis zur Spielsucht. „Bei uns treffen die belasteten Frauen auf liebevoll und zugleich konsequent agierende Betreuer – vertraut, verlässlich und verfügbar. Man kann nur weitergeben, was man kennt“, erklärt Sabine Jung-Schäfer den pädagogischen Ansatz. Rund um die Uhr gebe es Ansprechpartner.
Größte Einrichtung in Unterfranken
Mit aktuell 15 Plätzen ist die Schöllkrippener Mutter-Kind-Einrichtung laut ihrer Leiterin die größte in Unterfranken. Mütter ab 14 bis in der Regel 27 Jahren finden Aufnahme gemäß Entscheidung des zuständigen Jugendamts, das schließlich die Kosten trägt. Die Klientinnen kommen überwiegend aus dem Spessart, vom Untermain, aber teilweise auch aus dem Rhein-Main-Gebiet bis hinüber zum Taunus. Im Schnitt bleiben sie ein bis zwei Jahre, maximal können’s vier sein. Die Statistik weist für die vergangenen 15 Jahre 163 „Fälle“ aus. Während des Aufenthalts soll sich eine gute Perspektive für Mutter und Kind herausbilden – nicht unbedingt immer eine Perspektive miteinander. Weil den Frauen in der Regel positive Vorbilder im ausreichenden Maß fehlen, üben sie gewissermaßen den geregelten Alltag.
In jedem der drei „Hausabschnitte“ wird gemeinsam gekocht und geputzt. Besorgungen erfolgen in Absprache. Jede Bewohnerin hat eigenes Geld zur Verfügung, um zu lernen, damit zu haushalten. Striktes Fernsehverbot herrscht, solange die Kinder wach sind. Seit vier Jahren gehört eine eigene Kinderkrippe zur Einrichtung. So können die jungen Mütter parallel zur Erziehung des Nachwuchses ihre berufliche Zukunft angehen. Im Berufsförderzentrum der Stiftung lief 1965 der erste Lehrgang zur Verbesserung der Eingliederungsmöglichkeiten in Kooperation mit dem Arbeitsamt. Insgesamt acht Teilnehmerinnen absolvieren derzeit eine elfmonatige berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme mit den Schwerpunkten Nahrungszubereitung und Service, Haus- und Wäschepflege sowie Gartenbau und Floristik. Dieses Angebot richtet sich in erster Linie an Abgängerinnen aus Förderschulen. In dem von Diplom-Sozialpädagogin Ute Roth und ihrer Stellvertreterin, der Diplom-Psychologin Silvia Schiffmann-Krause, geleiteten Zentrum gehört ein Internat und eine heilpädagogische Wohngruppe. Eine umfassende und ganzheitliche Begleitung mit geeigneter Diagnostik und Krisenintervention sind somit möglich. Nach erfolgreichem Abschluss des Berufsvorbereitungslehrgangs können die Mädchen eine dreijährige Ausbildung zur Fachpraktikerin für Hauswirtschaft anschließen; 13 absolvieren eine solche zurzeit. „Fast immer gelingt der Einstieg ins Berufsleben – meist über ein Praktikum in externen Betrieben“, weiß Silvia Schiffmann-Krause.
Aber auch intern in der Stiftung können die Lehrgangsteilnehmerinnen und Auszubildenden das Erlernte unter fachkundiger Anleitung praktisch anwenden: 2013 wurde das „Café in der alten Schule“ eröffnet. Tatsächlich antworten die Mädchen unisono, dass sie hier am liebsten tätig seien. Auf der Speisekarte stehen köstliche Kuchen und pikante kleine Gerichte aus frischen regionalen Produkten. Gäste sind herzlich willkommen Montag, Dienstag und Donnerstag von 9 bis 17 Uhr sowie Mittwoch und Freitag von 9 bis 13 Uhr.
Auf den Alltag vorbereiten
Seit 2010 führt Karlheinz Kluge als Vorsitzender die Stiftung „Haus Mirjam“. Er war Vorstand einer örtlichen Bank. Jetzt ist eine seiner wesentlichen Aufgaben, den finanziellen Rahmen zu sichern, um junge Frauen begleiten, fördern und stärken zu können. Er betont: „Die Stiftung hat schon immer auf die Erfordernisse der jeweiligen Zeit geschaut.“ Diese waren beispielsweise Mitte des 19. Jahrhunderts die große Not im land- wirtschaftlich absolut kärglichen Spessart. Dann die nicht nur vorteilhaften Auswirkungen der Industrialisierung, die Folgen der Weltwirtschaftskrise zwischen den beiden Weltkriegen und zuletzt die Flüchtlingswelle aus dem nahen Osten und Afrika. Besonders leidtragend waren und sind die Kinder und Frauen – insbesondere die Frauen ohne Schulabschluss und Ausbildung. Der Grundstock, um Abhilfe zu leisten, kam aus den sogenannten Pfarrpfründen.
Bernhard Schneider