Evangelium
In jener Zeit sprach Jesus zu Nikodemus: Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, in ihm das ewige Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er an den Namen des einzigen Sohnes Gottes nicht geglaubt hat. Denn mit dem Gericht verhält es sich so: Das Licht kam in die Welt, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.Johannes 3,14–21
Wie stellen Sie sich eigentlich das letzte Gericht vor? Jesus, der in Glanz und Herrlichkeit am Ende der Zeiten wiederkommt, der dann jeden vor seinen Thron treten lässt, und auf Grund ihrer Taten die Gerechten von den Sündern trennt? Das ist wohl die am meisten verbreitete Vorstellung. Und das ist auch durchaus eine biblische Vorstellung. Wir finden sie zum Beispiel beim Evangelisten Matthäus (25,3–46).
Im heutigen Abschnitt des Johannesevangeliums jedoch begegnet uns eine ganz andere Vorstellung vom „Gericht Gottes“: Es findet im Hier und Jetzt statt. Und darüber, wie das Urteil dieses Gerichts ausfällt, entscheidet jeder selbst. Das klingt zunächst ein wenig befremdlich. Aber der Gedankengang des Evangelisten Johannes, den er im heutigen Evangelientext darlegt, ist durchaus konsequent und nachvollziehbar: Jesus wurde von Gott in die Welt gesandt, um den Menschen die unverfälschte und wahre Botschaft von Gott zu verkünden: „Das Licht kam in die Welt“ (Vers 19).
Ziel dieser Botschaft ist es, die Menschen zu retten: „ …, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Vers 16). Der Mensch kann sich nun entscheiden, ob er die Botschaft Jesu annimmt oder ob er sie ablehnt. Und mit dieser Entscheidung fällt er das Urteil über sich selbst: „Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er an den Namen des einzigen Sohnes Gottes nicht geglaubt hat“ (Vers 18). Mit der Entscheidung für oder gegen Jesus und seine göttliche Botschaft bestimmt also jeder selbst, ob er gerettet wird oder nicht. Es erübrigt sich demnach jedes weitere Gericht.
Was für eine Vorstellung! Für uns Christen eigentlich richtig bequem. Wir glauben doch an Gott, an Jesus, seinen Sohn und an dessen Botschaft. Wie oft haben wir das im Glaubensbekenntnis schließlich schon ausgesprochen! Doch wir müssen im Evangelientext noch weiter lesen: Der Alternative glauben oder nicht glauben folgt nämlich ein zweites Gegensatzpaar, das unmittelbar mit dem ersten zusammenhängt: Böses tun (Vers 20) und die Wahrheit tun (Vers 21). Ein ungewöhnlicher Gegensatz: Nicht Gutes tun stellt Johannes als Alternative neben Böses tun, sondern die Wahrheit tun. Das erinnert an eine andere Stelle des Johannesevangeliums, in der Jesus sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Johannes 14,6). Jesus sagt also nicht nur die Wahrheit, er ist die Wahrheit. Deshalb ist alles was er sagt und tut, Wahrheit. Von ihm her wissen wir also, was Johannes meint mit „die Wahrheit tun“: nach dem Beispiel Jesu handeln.
Darin zeigt sich letztlich, ob mein Glaubensbekenntnis nicht nur ein bloßes Lippenbekenntnis ist. Mein Glaube beweist sich in meinem Handeln! Da kommen sie also dann doch wieder zusammen, die zunächst so grundverschiedenen Vorstellungen von Matthäus und Johannes darüber, was dem letzten Urteil Jesu über uns zugrunde liegt. Es gilt in jedem Fall das, was der Text eines neuen geistlichen Liedes so ausdrückt: „Jetzt ist die Zeit! Jetzt ist die Stunde! Heute wird getan oder auch vertan, worauf es ankommt, wenn er kommt!“
Gabriele Michelfeit ist Pastoralreferentin in Bischofsheim.