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      „Würzburger Modell“ verbessert die medizinische Versorgung von Flüchtlingen

      Gesundheit als Menschenrecht

      Wer krank ist, braucht einen Arzt – für Deutsche selbstverständlich, für Flüchtlinge viel schwieriger. Die Asylgesetzgebung schränkt ihren Zugang zu medizinischer Versorgung stark ein. Statt einfach zum Arzt zu gehen, müssen sie erst zum Sozialamt, um einen Behandlungsschein anzufordern; wobei ohne medizinische Fachkenntnisse über die Notwendigkeit einer Behandlung entschieden und der Schein nicht immer ausgestellt wird. Für Tropenmediziner Professor August Stich mit einer solidarischen, christlichen Werteordnung nicht vereinbar. Wie medizinische Hilfe für Flüchtlinge anders gestaltet werden kann, zeigt das von ihm ins Leben gerufene „Würzburger Modell“.

      Es ist ein bewusst niederschwelliges Angebot, das Stich vor elf Jahren initiierte. Beim sogenannten „Würzburger Modell“ werden die Bewohner ohne Termin oder Behandlungsschein medizinisch versorgt. Denn: „Ein guter medizinischer Service vor Ort führt dazu, dass Notfallsituationen viel seltener auftreten“, erklärt Stich.

      Dauerhafte Hilfe

      Seit der Einführung der Sprechstunde sei die Zahl der Notarzteinsätze in den Gemeinschaftsunterkünften messbar zurückgegangen, so der Arzt des Klinikums Würzburg Mitte weiter. Auch Kollege Dr. Eduard Grünwald ist sich sicher: „Es ist eine gute Sache.“ Einmal im Monat hält der pensionierte Hausarzt aus Kitzingen die Sprechstunde in der Gemeinschaftsunterkunft in der Veitshöchheimer Straße in Würzburg. Die dortige Praxis ist montags bis freitags geöffnet und halbstags von einem Arzt besetzt.

      Ein Team aus Hausärzten, Tropenmedizinern, Schmerztherapeuten, Kinder- und Frauenärzten hat sich die Betreuung der Gemeinschaftsunterkünfte aufgeteilt. Teils stammen die Mediziner aus der Missioklinik, teils arbeiten sie wie Grünwald auf Honorarbasis. Stich ist es wichtig, viele Kollegen vor Ort einzubinden. So verteile sich die Arbeit und es werde ein größerer Kreis für die Thematik sensibilisiert. Gemeinsam mit verschiedenen Ärzten arbeiten sieben festangestellte Pflegekräfte, die neben den drei Unterkünften im Stadtgebiet ein zentrales Büro in der Klinik besetzen.

      Heute sind Schwester Juliana Seelmann von den Oberzeller Franziskanerinnen und Christine Wegener, Krankenschwester der Missioklinik, mit Grünwald eingeteilt. Den Pflegekräften kommt beim „Würz- burger Modell“ eine wichtige Rolle zu. „Dem Arzt-Patienten-Kontakt ist nochmal ein Kontakt mit einer medizinischen Fachkraft vorgeschaltet“, erklärt Stich. Die Pflegekräfte organisieren den Ablauf der Sprechstunde, sortie- ren Fälle, koordinieren, wer wann mit dem Arzt spricht.

      Viel Verantwortung

      Im Vergleich zum Klinikalltag oder der Arbeit in einer Praxis sind die Pflegekräfte in der Gemeinschaftsunterkunft einen halben Tag auf sich allein gestellt, bis der Arzt zur Sprechstunde vor Ort ist. „Es ist eine hohe Verantwortung. In der Klinik hat man ja immer einen Arzt im Hintergrund“, sagt Wegener. Oft müssen sie und ihre Kollegen bei Diensten in der Gemeinschaftsunterkunft selbst entscheiden, wie dringlich Beschwerden sind. Durch die Vorsortierung werde der Arzt entlastet und könne am Ende mehr Leute behandeln, so Stich.

      Wegener war 2008 die erste Pflegekraft, die die Sprechstunden begleitete. Zuvor hatte sie bei Gesundheitskursen für Flüchtlinge des Missionsärztlichen Instituts mitgearbeitet. Darin werden die Bewohner in Hygiene, Erste-Hilfe-Maßnahmen, Mutter-Kind- Gesundheit oder HIV-Prävention geschult; je nach Hintergrund der Teilnehmer. Da die Kurse von den Bewohnern anfangs oft genutzt wurden, um die Referenten zu akuten gesundheitlichen Problemen zu befragen, kam Stich auf die Idee einer dauerhaften medizinische Versorgung vor Ort.

      Ruhe und Geduld

      Schwester Juliana führt eine Frau mit ihrem Kind ins Sprechzimmer. Grünwald lächelt den beiden zu und deutet auf den Stuhl vor sich. Die junge Mutter macht sich Sorgen um ihren kleinen Sohn. Auf Englisch schildert sie Grünwald, dass der Säugling schlecht Luft bekomme und häufig huste. Der Arzt fragt nach: Trinkt der Kleine? Seit wann hat er die Symptome? Wurde schon Fieber gemessen? Geduldig und ruhig wiederholt er manche seiner Fragen mehrmals – bis er sicher ist, dass die Frau ihn und er ihre Antworten richtig verstanden hat. Grünwald bemüht sich langsam und deutlich zu sprechen, sucht oft den Blickkontakt zur besorgten Mutter. In passenden Momenten versucht er seine Worte mit Gesten leichter verständlich zu machen. Nebenbei beginnt er, den erst drei Monate alten William zu untersuchen.

      Zeit zum Erklären

      Seit wenigen Monaten leben die aus Nigeria stammende Mutter und ihr Sohn in der Gemeinschaftsunterkunft. Liebevoll redet Grünwald mit dem Kleinen, während er ihn sich ansieht. Schließlich kann er die Frau beruhigen: William hat sich nur etwas erkältet. Erleichterung zeichnet sich auf dem Gesicht von Williams Mutter ab. Während sie damit beschäftigt ist ihn wieder anzuziehen, nutzt Schwester Juliana die Zeit und gibt Grünwalds Diagnose in den Computer ein. Im Anschluss erklärt sie der Frau, wie sie in einer nahegelegenen Apotheke das Rezept für die verschriebenen Nasentropfen einlösen kann.

      Sprachbarriere

      Vor der Einführung des „Würzburger Modells“ kamen abwechselnd vier niedergelassene Ärzte für eine Stunde pro Woche in die Unterkunft mit ihren fast 400 Bewohnern, erinnert sich Tropenmediziner Stich: „Das war völlig unzureichend, um eine solide medizinische Versorgung aufzubauen.“ Nach einigen Gesprächen mit der Regierung von Unterfranken war es Stich schließlich in einer Zusammenarbeit möglich, seine Idee einer täglichen Arztsprechstunde auszuprobieren und nach und nach zu etablieren. Aus einem einzelnen Behandlungsraum wurde inzwischen eine Art Arztpraxis. In der Unterkunft der Veitshöchheimer Straße gibt es neben zwei Sprechzimmern auch einen Wartebereich, einen Ruheraum sowie eine Teeküche.

      Schnell nimmt Grünwald einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, da ist schon der nächste Patient an der Reihe. Schwester Juliana ruft die Patientenakte im Computer auf. Kurz informiert sie den Arzt, der den Patient bisher nicht kennt, über dessen gesundheitliche Vorgeschichte. Das ist einer der Unterschiede zur Arbeit in einer Hausarztpraxis, erklärt Grünwald: „Die Kommunikation ist schwierig: Erstens, weil ich meine Patienten sonst oft schon jahrelang kenne. Zweitens, weil es eine fremde Sprache ist.“ Oft falle es ja bereits schwer, Symptome in der Muttersprache korrekt zu beschreiben.

      „Die Sprachbarriere ist das, was jeden erstmal betrifft, der da arbeitet“, weiß auch Projektvater Stich. „Aber es ist dennoch das, was man am leichtesten überwinden kann“, fügt er hinzu. Und so klappt die Verständigung in einem Mix aus Deutsch, Englisch und Französisch und dem Einsatz des eigenen Körpers dann meist doch.

      Gefährliche Arbeit

      Teils brächten die Patienten bei mangelnden Sprachkenntnissen auch selbst Bekannte oder Familienmitglieder als Übersetzer mit. Das findet Krankenpfleger André Spiegel, der den Einsatz der Pflegekräfte koordiniert und selbst in den Sprechstunden hilft, gerade bei gynäkologischen oder psychischen Problemen nicht passend. Hier behilft man sich beim „Würzburger Modell“ mit einem Team aus Sprachmittlern – spendenbasiert.

      Der Einsatz in der Gemeinschaftsunterkunft ist besonders, beschreibt Krankenschwester Wegener ihre Arbeit: „Wir sind hier, wo die Leute leben. Man ist viel näher dran als in der Klinik.“ Man bekomme daher nicht nur rein Medizinisches, sondern auch viel Soziales mit, blicke in die Familien, so Spiegel. Was für die Bewohner gut ist, kann für die Helfenden gefährlich werden. „Gefährlich nicht in dem Sinn, dass einem da was passiert. Sondern dass man in etwas hineingezogen wird, das über das hinausgeht, was man ertragen kann“, warnt Stich; Stichwort psychische Belastung. Ärzte und Pflegekräfte sollten durchaus mitfühlend sein, dürften aber niemals mitleiden. Wenn es die Zeit zulässt übernimmt auch der Tropenmediziner noch immer selbst die ein oder andere Sprechstunde.

      Die kulturellen Unterschiede fielen dabei meist wenig ins Gewicht. Um niemanden in seiner Kultur zu verletzen, hat Krankenschwester Christine Wegener ihren eigenen Weg gefunden: „Ich habe immer gefragt: Wie ist das bei Euch üblich?“ – daran hat sie sich dann orientiert und inzwischen viel dazugelernt und an ihre Kollegen weitergegeben.

      Psychische Leiden

      „Man denkt immer, da kämen ganz viele exotische Krankheiten, aber es ist wie eine Hausarztpraxis“, beurteilt Grünwald die Arbeit in den Gemeinschaftsunterkünften. Vom aufgeschürften Knie bis zur chronischen Erkrankung sei alles vertreten. Der Anteil an Tuberkulose oder HIV Patienten sei aber deutlich höher als in Deutschland üblich.

      Außerdem würden die Ärzte häufiger mit psychischen Krankheiten konfrontiert. „Das haben wir anfangs völlig unterschätzt: Die Wucht, mit der psychische Probleme durchschlagen“, gibt Stich zu. „Das sind oft Geschichten, die wollen wir nicht wissen und die können wir auch kaum ertragen.“ Krankenpfleger Spiegel vergleicht die Fluchterfahrung mit einer schweren Erkrankung, da auch sie das Leben einschneidend bestimme.

      Flüchtlingen im Krankheitsfall bestmöglich zu helfen, das hat sich das Team des „Würzburger Modells“ zum Ziel gesetzt. „Nach unserem ethischen Verständnis, basierend auf einer christlichen Werteordnung, aber auch nach der UN-Menschenrechtsdeklaration hat jeder Mensch das Recht auf das höchstmögliche Maß an Gesundheit“, so Projektleiter Stich. Aus diesem Verständnis heraus wollen er und sein Team Flüchtlingen helfen, die ihnen ihrer Meinung nach zustehenden medizinischen Versorgungsleistungen in Anspruch zu nehmen. Doch das Asylbewerberleistungsgesetz beschränkt den Zugang für Flüchtlinge auf Hilfe bei akuten Schmerzen und lebensbedrohlichen Erkrankungen.

      Eine Möglichkeit

      Die Fachkräfte versuchen sich in den Sprechstunden selbst ein Bild zu machen, was notwendig ist und beantragen je nachdem passende Maßnahmen. Für Stich sieht das System, nach dem in Deutschland mit Flüchtlingen umgegangen wird, als von Abschreckung und Hindernissen statt von einer christlichen, solidarischen Werteordnung geprägt. Dass sich die Versorgung auch anders gestalten lässt, hat der Tropenmediziner mit dem „Würzburger Modell“ bewiesen. Es sei eine mögliche Lösung, um Menschen direkt zu helfen.     

      Victoria Förster