Unser Leben hat kaum noch Raum für Stille. Nach dem digitalen Weckerpiepsen greifen wir als erstes zum Handy, checken Nachrichten, klicken sich aufdrängende Bilder an, starten die tagesbegleitende Dauermusik. Den ganzen Tag über sind wir in Bewegung, ertragen Verkehrslärm, hetzen von einem Telefonat zum nächsten, versuchen die Stimmen der Kollegen im Großraumbüro zu überhören. Sogar beim Einkauf im Supermarkt rieselt Musik auf uns nieder. Und am Abend ertragen wir dann nicht einmal mehr das freudige Bellen des Hundes oder die wild durcheinanderpurzelnden Stimmen der Nachbarskinder auf der Straße. Kindern geht es dabei nicht anders: Von der Schule zur Orchesterprobe und weiter auf den Fußballplatz, zwischendrin Youtube-Videos gucken und abends noch ein Actionfilm im Fernsehen.
Lärm macht krank
Dabei ist es doch erwiesen: Lärm macht krank. Lärm versetzt den Körper in eine Art Daueralarmbereitschaft. Der Körper schüttet Stresshormone aus, die Leistungsfähigkeit nimmt ab, Ermüdung setzt ein. Auf Dauer führt das sogar zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Bluthochdruck, Arterienverkalkung, Herzinfarkt. Stille beschreibt das Wörterbuch der deutschen Sprache recht dürr als „Lautlosigkeit, Geräuschlosigkeit, Schweigen“, also im Grunde Abwesenheit von Lärm. Dabei kann Stille gespenstisch, trügerisch, grauenvoll bis hin zur Totenstille sein, wir sprechen von peinlicher und lähmender Stille oder dem stillen Weggang eines Menschen. Absolute Stille wie die in einer Camera silens empfinden wir gar als erdrückend und beängstigend, was Halluzinationen und Depressionen auslösen, ja wie eine Folter wirken kann.
Doch die Stille, nach der wir uns sehnen, ist eine andere. Sie hat mit Schweigen, Konzentration, einer inneren Haltung und bewusster Wahrnehmungsbereitschaft zu tun. Stille kann das Rauschen des Windes durch ein Blätterdach, das Zwitschern der Vögel auf einer Frühlingswiese oder der Wind über einem Alpengipfel sein. In Momenten wie diesen entspannen wir uns, wir empfinden Ruhe, Frieden und leben einfach im Hier und Jetzt.
Bedürfnis nach Ruhe
Das Bedürfnis nach Ruhe ist dem Menschen bereits in die Wiege gelegt. Babys schreien, wenn zu viele Reize auf sie einstürmen, die Eltern bringen sie dann intuitiv an einen ruhigeren Ort. Kleine Kinder ziehen sich zurück, wenn sie Ruhe brauchen. Denn nur so, im Bei-sich-sein, im versunkenen Spiel oder im Schlaf gelingt es ihnen, die im Laufe des Tages auf sie einstürmenden Eindrücke zu verarbeiten.
Wer Stillwerden und Schweigen schon in der Kindheit erlernt, hat später ein hochwirksames Gegenmittel gegen die Reizüberflutung unserer Zeit an der Hand und kommt besser mit den An- und Überforderungen des Lebens zurecht. In der Kindergarten- und Grundschulpädagogik ist dieses Wissen schon lange angekommen. Bereits Maria Montessori ging von einer tiefen inneren Bereitschaft des Kindes zur Stille aus. Durch die Stille könnten Kinder ihr inneres Wesen erleben und bisher verborgene Fähigkeiten entwickeln, meint die Pädagogin. Die moderne Hirnforschung bestätigt dies: Demnach verspricht Stille nicht nur Entlastung, Sammlung und Konzentration, sondern schärft die Sinne, sensibilisiert die Wahrnehmung und erleichtert sogar das Lernen.
Tipps für den Alltag
Vor allem in der Reformpädagogik haben Übungen und Angebote zur Stille heute einen festen Platz. Doch auch zu Hause können Eltern ihre Sprösslinge von klein auf an Phasen der Ruhe und des Schweigens gewöhnen und diese in den Alltag einbauen:
● Lassen Sie Ihrem Kind Raum zur Stille und gönnen Sie ihm Momente der Langeweile – ohne Dauermusik, immer neue Beschäftigungsangebote oder ein plapperndes Hörspiel im Hintergrund. Häufig greift das Kind dann ganz von selbst zu einem Bilderbuch oder beginnt still zu puzzeln.
● Stille sollte nie eine Strafe sein. Bieten Sie stattdessen immer wieder gemeinsame Stille-Erfahrungen an, zum Beispiel indem Sie gemeinsam dem Klang einer Klangschale nachhorchen, in das stille Flackern einer Kerzenflamme schauen oder dem Ticken einer großen Uhr lauschen und dabei beobachten, wie der Sekundenzeiger die Zeit einer Minute abläuft. Sie werden staunen, wie lang eine Minute sein kann.
● Machen Sie gemeinsam einen Mittagsschlaf. Schon eine halbe Stunde lädt die Energiespeicher von Eltern und Kindern auf.
● Unternehmen Sie einen kurzen Nachmittagsspaziergang und nehmen Sie mit staunenden Kinderaugen alles wahr, was Ihnen unterwegs begegnet: Spüren Sie die Wärme der Sonne auf der Haut, betrachten Sie ein bunt gefärbtes Herbstblatt, streichen Sie über die Rinde eines Baumstamms, lauschen Sie dem Plätschern des Bachlaufs.
● Funktionieren Sie das Wohnzimmer hin und wieder zu einer Art Ruheraum um – mit gedämpftem Licht, gemütlichen Kissen und Decken, einer Tasse Tee und meditativer Musik.
● Gehen Sie gemeinsam auf eine Phantasie- und Erholungsreise in die Stille. Der Buchhandel bietet hier eine Fülle passender Hilfestellungen in Buch- oder CD-Form an.
● Lesen Sie vor dem Schlafengehen noch eine Geschichte vor. Das mündet ganz von selbst in die Stille.
Wer das Schweigen aushält, wird darin bald noch mehr entdecken. Nicht umsonst finden sich Meditation und Stille in allen Welt-Religionen wieder. Der Heilige Benedikt von Nursia kommt in seinen Ordensregeln immer wieder auf den Wert des Schweigens zu sprechen, ja widmet ihm gar ein eigenes Kapitel. Dahinter steht die Erfahrung, dass der Mensch erst dann, wenn der Lärm der Welt zum Stillstand kommt, zur eigenen Mitte finden kann. Mit all seinen Sorgen, Zweifeln und Verletzungen, mit all seinen Talenten, Träumen und Wünschen.
Weg zu Gott
Der katholische Theologe, Religions- und Schulpädagoge Hubertus Halbfas bezeichnet die Stille als einen „Sprung in den Brunnen“, bei dem der Mensch in seine unbekannte, manchmal erschreckende eigene Tiefe abtaucht. Für ihn ist Stille ein „Weg zur eigenen inneren Mitte und zu Gott“. Denn am Grunde des Brunnens wartet ER, und nur wer schweigen kann, kann SEINE Stimme im eigenen Leben wahrnehmen. Und diese Chance sollten wir unseren Kindern doch ermöglichen. Oder?
Anja Legge