In Marktredwitz, einem Städtchen am Rande des Fichtelgebirges, wartet auf Krippenfreunde eine Besonderheit. Der dortige Krippenweg mit meist über zwanzig Stationen lädt nicht vorrangig in Kirchen und Museen, sondern in Privathäuser. Das sogenannte Krippenschauen hat eine lange Tradition und eine verbindende, soziale Bedeutung, die sich nicht nur an Einheimische richtet. Seit 2021 steht die Marktredwitzer Krippenkultur sogar auf der Liste des Immateriellen Erbes in Deutschland. Volker Dittmar, der Leiter des Egerland-Museums in Marktredwitz, hofft nicht nur auf überregionales Interesse. „Auch die Bevölkerung weiß nun um die Bedeutung der Krippenkultur und nimmt sie als wertvoller wahr.“ Denn natürlich gibt es auch unter den Kripperern, wie man die Krippenfreunde in Marktredwitz nennt, Fachkräftemangel oder anders ausgedrückt Nachwuchsprobleme. „Früher gehörte eine Krippe in jeden Haushalt, vor allem um das Jahr 1900“, blickt Dittmar zurück. Aber das Aufstellen der teilweise riesigen Krippenlandschaften sei eine Arbeit, die viele nicht mehr leisten könnten oder möchten.
Die Größte steht im Keller
Einer, der sich gerne ans Werk macht, ist Albin Artmann. Nichts wie hin in die Wegener Straße. Es wird sofort geöffnet, man scheint auf Besuch zu warten. Der Weg durchs Haus führt vorbei an kleinen Krippen in die Kellerräume, wo sich der Höhepunkt ausbreitet, eine 15 Quadratmeter große Landschaft, in der es jede Menge zu sehen gibt. Die Kulisse ist wie in den meisten Marktredwitzer Krippen alpenländisch geprägt, im Hintergrund ragen Berge auf. Man habe sich „diese Sehnsuchtsregion inklusive vieler Klischees“ ins eigene Heim geholt, erklärt Dittmar diesen Trend aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Krippenkultur in Marktredwitz entstanden ist. „Bei mir gibt es immerhin einen Brunnenwastl aus dem Fichtelgebirge“, freut er sich. Seine ältesten Figuren sind von 1840.
Bei Albin Artman begann alles mit einer Krippe, die ihm sein Opa geschenkt hat. Der gelernte Schlosser kaufte Figuren und Requisiten hinzu. So wuchs seine Krippe immer weiter. „Im Moment habe ich etwa 140 Kühe in der Landschaft verteilt.“ Und Figuren? „Die zähle ich schon nicht mehr, es sind so viele.“ Auch für die special effects sorgt Artmann selber. Hier dreht sich ein Karussell, dort kommt Rauch aus einem Schlot und vor der Krippe, die am Rand der Landschaft ein wenig versteckt liegt, lodert ein Feuer. In den vielen einzelnen Szenen, die charakteristisch sind für die Marktredwitzer Krippen und die die Krippenfreunde und -freundinnen Jahr für Jahr stets anders arrangieren, werden Geschichten erzählt, die typischen „Stickla“. Der „Schwitzerte“, der sich den Schweiß mit einem Tuch von der Stirn wischt, taucht in den meisten Krippen auf, genauso wie Metzger und Schuster, Schmied und Schornsteinfeger, die immer etwas zu tun haben. Bauern säen und ernten. Ihre Produkte werden in schönster Buntheit auf Marktplätzen feilgeboten. Man sieht Menschen im Biergarten, die mit Maßkrügen anstoßen, andere nehmen lieber ein Sonnenbad an einem Bach. Damit alles natürlich wirkt, sind die Szenarien mit Baumrinde, Moos, Steinen und Wurzeln dekoriert. Die Grundlage wird aus Styropor geformt.
Das Jesuskind vergessen
In der Krippe der Familie Flügel trifft man einen Landschaftsmaler bei der Arbeit an. In der Nähe wird ein Strafzettel wegen unerlaubten Holzsammelns erteilt. „Vor lauter Figuren haben wir beim Aufbau schon mal das Jesuskind vergessen“, erzählt die Tochter des Hauses lachend. Auch in der Krippe der Familie Geyer, bei deren Aufbau vier Generationen mithelfen, steht Jesu Geburt nicht im Zentrum. Wichtiger ist dagegen der Kammerwagen, ein typisches Element der Marktredwitzer Krippen. „Mit dem Wagen bringt der Bräutigam die Möbel der Braut ins gemeinsame Heim“, erklärt Frau Geyer. Und der hat ganz schön geladen. Die Tochter weist auf das Einhorn hin, das die Krippenszene beobachtet. „Das finden Sie nur bei uns.“ Wieso ein Einhorn? Da schütteln die Damen den Kopf, das könne man beim besten Willen nicht herausfinden. Auf einmal sei es da gewesen – wie im Märchen.
Der Prinzregent
Eine Kultfigur scheint ein freundlich daherkommender älterer Herr in Jägermontur und mit Rauschebart zu sein, der bayerische Prinzregent Luitpold. „Der war im 19. Jahrhundert im Volk aufgrund seiner Nahbarkeit beliebter als die Ludwigs“, informiert Volker Dittmer. Kaum eine Krippe komme ohne ihn aus. Trotz Alpenkulisse mit Bergsteigern, Menschen in oberbayerischer Tracht und Schuhplattlern sind auch viele Marktredwitzer Originale in den Krippen zu finden. „Der ‚Schwitzerte‘ ist zum Beispiel die Karikatur eines hiesigen Industriellen“, erklärt der Museumsleiter. Für die mit 60 Quadratmetern größte Krippe wäre ein Personenregister keine schlechte Idee.
Nicht weniger als 500 Figuren (und 50 Gebäude) hat Renate Dick im Schuppen hinter ihrem Haus versammelt. Sie lässt sie das Jahr über stehen. „Ich bin zu alt, um alles wieder ab- und aufzubauen.“ Spätestens angesichts dieses dreidimensionalen Wimmelbildes fragt man sich, wie diese Tradition entstanden ist. „Zu uns kamen die Krippen wahrscheinlich mit katholischen Söldnern zu Maria Theresias Zeiten“, glaubt die alte Dame. Man muss wissen, dass Marktredwitz seit dem 16. Jahrhundert evangelisch geprägt war, also keine Krippenkultur kannte. Es gibt auch andere Vermutungen. Vielleicht gehen die Marktredwitzer Krippen auf Einflüsse aus den katholischen Nachbarregionen Oberpfalz und Egerland zurück. Oder waren es katholische Emigranten, die Krippen sozusagen einführten? Oder der Handelsweg von Nürnberg nach Prag?
Seit dem 19. Jahrhundert
Es bliebe unklar, weil schriftliche Aufzeichnungen weitgehend fehlten, führt Dittmer aus. „Von einer Marktredwitzer Krippenkultur kann man ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sprechen, als es für die Arbeiter in der im Niedergang befindlichen Porzellanindustrie immer wichtiger wurde, einen Nebenerwerb zu haben.“ Sie fingen an, Krippenfiguren aus Ton herzustellen. Zahlreiche Exemplare aus jener Zeit gehören zum „Personal“ der Krippen. Das Töpferhandwerk in Marktredwitz ist zwar längst ausgestorben, doch der ein oder andere Kripperer modelliert und brennt noch selber. Albin Artmann besitzt sogar Originalformen aus dem 19. Jahrhundert und einen Brennofen. Der engagierte Kripperer hilft im Museum, wenn es darum geht, eine neue Krippe aufzubauen. Eine neu gestaltete Abteilung widmet sich dort den Landschaftskrippen und beleuchtet sie kulturhistorisch. Seit Neuestem gibt es eine Krippenlandschaft in 3D, durch die man mit einer VR-Brille spazieren kann. 20 Krippen hat man für dieses Projekt, das neue Freundeskreise erschließen soll, digitalisiert. In der Brunnenkrippe vor dem Rathaus zeigt derweil das einvernehmliche Beisammensein des evangelischen Pfarrers mit dem katholischen, dass in den Marktredwitzer Krippen die Ökumene gelebt wird und das, obwohl die Geburtsszene stets eine Randerscheinung geblieben ist.
Ulrich Traub
Informationen
Wer den Krippenweg in Marktredwitz besuchen möchte, hat dazu vom 26. Dezember bis zum 7. Januar Gelegenheit. Manche Krippen sind auch schon vorher und/oder länger zu sehen. Infos gibt es unter Telefon 09231/501128, Internet „www.marktredwitz.de“. Dort können Führungen gebucht werden. In einer Broschüre erfährt man Details. Download unter „www.marktredwitz.de/freizeit-und-tourismus/flyer-broschueren-karten“.