Unter Christen gilt der Heilige Geist als Kraft, die Einheit schafft. Ein starkes Bild dieser Einheit findet sich in der Apostelgeschichte. Sie erzählt vom Sprachenwunder in Jerusalem, als am Pfingsttag alle vom Geist Erfüllten einander verstanden. Im Zuschütten von Gräben und Herstellen von Gleichklang sieht das Christentum göttliches Wirken. Ihrem Anspruch nach verfolgen Christen diese Idee der Einheit. In der Kirche zähle Einheit mehr als Verschiedenheit, sagte Papst Franziskus vor gut fünf Monaten in seiner Neujahrspredigt.
Nun ist Einheit aber eine Idee mit vielen Bruchstellen. Europa blickt auf eine dramatische Geschichte der Völkerentzweiung zurück, die bis ins 20. Jahrhundert reichte. Verglichen damit leben die Europäer der Gegenwart zwar in himmlischer Harmonie. Doch die Europawahl hat gezeigt, wie eng gesteckt die Grenzen der Verständigung sind. In rund 70 Jahren (west-)europäischer Einigung hat sich noch keine wetterfeste gemeinsame Identität entwickeln können. Wie schaut es in der Kirche aus? Hier stritten schon Petrus und Paulus über den Umgang mit Heidenchristen. In späteren Jahrhunderten tobten grausame religöse Konflikte. Die sind zum Glück vorbei. Aber wie steht es um die Einheit? Kurz vor dem diesjährigen Pfingstfest erklärte der Augsburger Bischof, dass er den von der Deutschen Bischofskonferenz beschlossenen „synodalen Weg“ nicht mittrage. Auch die Erzbischöfe von Köln und München scheinen sich manchmal so nahe zu stehen wie einst Petrus und Paulus.
Das alles legt nahe, dass Einheit in der Regel eine Nummer zu groß ist für menschliche Gemeinschaften. Umso wichtiger ist es, Uneinigkeit zu bewältigen: indem man lebt und leben lässt, andere Personen respektiert, selbst wenn man sie nicht begreift. Es ist eine Stärke, im eigenen Garten Pflanzen zu dulden, deren Wuchs und Farbe einem nicht gefallen. Christen können in dieser Stärke ein Wirken des Geistes sehen.
Ulrich Bausewein