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      Beim Waldbaden neue Kräfte sammeln

      Einfach sein

      Federleicht schwingt mein Körper zwischen den Baumstämmen hin und her. Mit ihrem fest verankerten Wurzelwerk tragen mich diese hoch in den Himmel aufragenden Riesen.

      Zwischen ihnen fühle ich mich sicher. Nach oben werden die Zweige immer filigraner und fächern sich schließlich zu einem schwebenden Blätterdach auf. Hin und wieder blitzt die Sonne durch das unendlich vielfältig schimmernde Grün. Mal zwitschert ein Vogel, mal schwirrt eine Mücke vorbei. Ansonsten Stille, einfach nur Stille. Ein Lüftchen fährt durch die Kronen, die Stille wird zu einem sanften Rauschen. Dann durchschneidet ein Flugzeug die perfekte Stille. Wo es wohl hin will? Rom, New York, Bora Bora? Egal. Ich muss es nicht wissen. Mir geht es gut, im Hier und Jetzt. Hier kann ich bleiben.

      Es tut einfach gut

      Ganz ähnlich empfinden es auch Martina, Pia, Barbara, Roswitha, Michael und all die anderen, die sich an diesem sommerlichen Sonntag mit mir einen Waldbadetag gönnen. Das erzählen sie mir zumindest hinterher mit glänzenden Augen und der wieder eingerollten Hängematte aus Fallschirmseide. Bereits am Vormittag sind wir gemeinsam mit unserem „Waldbademeister“ Christoph Hägele in ein Waldstück am Fuß des Volkersbergs eingetaucht. Und ohne dass wir selbst es gemerkt haben, hat er uns klammheimlich wunderbar auf unser Waldbad in der Hängematte vorbereitet, unsere Sinne wachgekitzelt und uns immer ein Stückchen tiefer in die Geheimnisse des Waldes hineingeführt.

      Erster Eindruck am Morgen: Die angenehme Waldeskühle tut nach der schwirrend-schwülen Hitze zwischen den Häusern und auf den Feldwegen einfach gut. Mit einem tiefen Atemzug ziehe ich frische, sauerstoffreiche Luft in meine Lungen – und mit ihr noch so einiges mehr, wie Christoph wenig später aufklärt. Barfuß steht der Walderlebnisführer und Wildkräuterkenner zwischen den raschelnden Blättern und erzählt, wie ätherische Öle und Terpene die Aktivität von Killerzellen anregen, schwärmt vom Mycobacterium vaccae, das die Serotoninausschüttung steigert, und beschreibt die beruhigende Wirkung des Grüns, das den Rhythmus von Herz und Nieren ausbalanciert. Shinrin Yoku, so die japanische Bezeichnung für das Waldbaden, ist laut Hägele weit mehr als nur ein Modetrend aus Japan. Von der wohltuend-heilsamen Wirkung habe sogar Gesundheitspfarrer Sebastian Kneipp gewusst und seinen Patienten regelmäßige Aufenthalte im Wald verordnet.

      Netzwerk der Natur

      Während unser Waldexperte erzählt, hat er ein Schnurknäuel durch die Runde geworfen. Unmerklich ist so zwischen uns ein Netz entstanden. „So ein Netz befindet sich auch unter uns“, lenkt Christoph den Blick gen Waldboden. „Über dieses Netz sind alle Bäume des Waldes miteinander verbunden, und auch wir sind letztlich Teil des großen Netzwerkes, des Ökosystems Natur.“ Weil viele Menschen dieses Bewusstsein verloren haben, habe er es sich zur Aufgabe gemacht, die „Menschen zurück in die Natur zu führen“, damit sie „die Wurzeln des eigenen Seins besser wahrnehmen und ihren Platz im Leben wieder spüren können“.

      Klingt fast ein wenig esoterisch, oder? Doch bevor Zweifel aufkommen können, schultert Christoph den Rucksack und führt uns weiter in den Wald hinein. Nach wenigen hundert Metern verlassen wir den ermüdenden Schotterweg und biegen auf einen Waldpfad aus Tannennadeln, Laub und Moos ein, der von kräftigen Wurzeln durchzogen ist. Bevor es weitergeht, drückt uns Christoph eine Spiegelfliese in die Hand und zwingt uns zum Perspektivwechsel: Während mein Partner mich sicher über Wurzeln und Steine lotst, halte ich mir den Spiegel unter die Nase. Der Blick auf den etwas eintönig braunen Waldboden ist mir so zwar verwehrt, dafür öffnet sich durch den Spiegel eine ganz andere Welt: Ich tauche ein in eine enorme Tiefe, staune über intensive Farben und unendlich viele Ast-Etagen, freue mich am Blau des Himmels zwischen den Kronen. Fühlt sich so ein Vogel, der durch das Blätterdach segelt?  

      Mit allen Sinnen

      Statt weiter zu philosophieren, heißt es jetzt „sinnlich werden“ oder besser: den Wald mit allen Sinnen wahrnehmen. Dazu gehört, die eigene Umwelt nicht nur zu sehen und zu hören, sondern auch zu spüren, zu riechen und zu schmecken: Die knorzige Baumrinde an meinem Rücken, den warmen Waldboden, die Sonnencreme auf der Haut, den erdigen Geschmack nach Moos und Laub. Mit jeder Wahrnehmung kehrt mehr Ruhe ein, ich schließe die Augen, richte mich beim Einatmen ein klein wenig mehr auf, erwische mich auf der Suche nach dem Geschmack des Waldes beim Kauen und Schlucken.

      Wenig später sitze ich mit verbundenen Augen auf einem Baumstumpf und warte, was mir in die Hände gelegt wird: Die glatte, fast wächserne Oberfläche eines Eichenblattes. Ein pergamentartiges Stück Baumrinde, das beim Berühren zerbröselt. Die seidigen Haare eines Moosbüschels, die zum zärtlichen Streicheln verführen. Eine halb aufgebrochene Eichel – der verletzliche weiche Kern liegt frei, daran ein mutiger Schössling, den die Trockenheit verdorren ließ. Ich wünschte, meine Fingerkuppen könnten besser tasten, bin immer wieder versucht, die Augenbinde abzunehmen und Augen und Verstand zu Hilfe zu nehmen. Wenn ich es dann tue, bin ich überrascht, dass der Sandstein in meiner Hand gelb und nicht rot ist, dass das tatsächlich ein Eichenblatt ist. Anderen geht es ähnlich: Fast verwundert betrachtet Marina die ihr angereichten Rindenstücke, Barbara gräbt mit den Händen durch den Waldboden, Ludwig lauscht mit geschlossenen Augen dem Knacken der Äste.

      Geschenkte Schönheit

      Erst später, als ich in meiner Hängematte liege und beobachte, wie der Wind mit den Blättern spielt, wird mir klar, was Christoph eingangs mit den „Wurzeln des eigenen Seins“ gemeint hat. Gedankenverloren zwischen den Stämmen schaukelnd und in das Grün blinzelnd sehe ich, welche unbeschreibliche Schönheit vor meiner Haustür liegt. Schönheit, die mir, uns allen von Gott geschenkt ist, an der ich aber meist achtlos vorbeigehe. Aus den Hängematten rings um mich herum dringt kein Laut: Stille. Zufriedenheit. Einfach so. Und Christoph? Der sitzt mit geschlossenen Augen am Boden, den Rücken an einen Stamm gelehnt, die nackten Füße von sich gestreckt, beide Handflächen auf dem Waldboden, und saugt die Kraft des Waldes regelrecht in sich auf. Einfach so. Einfach sein.

      Anja Legge

      Info

      „Waldbaden“ ist ein Angebot des Lernwerks Volkersberg. Veranstaltungen zu diesem Thema und ähnlichen Themen rund um Natur, Entschleunigung und Achtsamkeit gibt es unter „www.volkersberg.de/lernwerk/bildungsan­gebote“.