Hinweis

Ihre Browserversion wird leider nicht mehr unterstüzt. Dies kann dazu führen, dass Webseiten nicht mehr fehlerfrei dargestellt werden und stellt ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Wir empfehlen Ihnen, Ihren Browser zu aktualisieren oder einen der folgenden Browser zu verwenden:

Probeabo des Magazins bestellen

Lernen Sie das Sonntagsblatt kennen – kostenlos und unverbindlich

    Lernen Sie das Sonntagsblatt kennen – kostenlos und unverbindlich

      Mehr
      „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ – Gespräch mit einem Experten für jüdische Geschichte und Kultur

      Ein stetiges Hin und Her

      Professor Michael Brenner (57) gehört zu den wichtigsten Historikern in Deutschland. Der Experte für Jüdische Geschichte und Kultur hat seit 1997 den Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München inne, seit 2013 zudem den Seymour and Lillian Abensohn Chair für Israelstudien an der American University in Washington D.C. Das Sonntagsblatt hat ihn im Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Juden in Deutschland, Bayern und Franken befragt.

      Herr Professor Brenner, ist das Festjahr „1700 jüdisches Leben in Deutschland“ für Sie ein Jubiläum?

      Michael Brenner: Es ist eine Gelegenheit, um über die jahrtausendelange jüdische Präsenz in dem Gebiet, das heute Deutschland ist, nachzudenken. Feiern ist eine schwierige Sache. Da ist einfach zu viel passiert, um zu sagen: „Wir feiern das, wie man einen Geburtstag feiert.“

      Wann lässt sich jüdisches Leben in Deutschland und in Bayern erstmals wirklich nachweisen?

      Richtig los geht es im 10. Jahrhundert im Rheinland und auch schon auf dem Gebiet des heutigen Bayern. Wir wissen zumindest seit dem 10. Jahrhundert von einer jüdischen Präsenz in Regensburg und etwas später, um 1100, wohl auch in Würzburg, wahrscheinlich Flüchtlinge aus dem Rheinland.

      Was hat die jüdische Präsenz in Bayern und in Deutschland geprägt?

      Es ist ein ständiges Hin und Her von Zugehörigkeit auf der einen und Zurückweisung auf der anderen Seite. Und trotz aller Gewalt,Vertreibung und Zurückweisung gab es auch Epochen, in denen jüdisches Leben sich konsolidierte, in denen Zentren jüdischer Gelehrsamkeit entstanden, in denen jüdische Familien über viele Generationen an einem Ort bleiben konnten und lokal und regional dazugehörten.

      Gegen Ende des Mittelalters wurden ja die Juden unter anderem aus dem Herzogtum Bayern vertrieben.

      Diese Austreibungen aus dem Herzogtum Bayern und anderen Territorien haben dazu geführt, dass in Polen eine große jüdische Gemeinde entstanden ist. Aber nicht alle Juden sind nach Polen geflohen. Viele sind dann einfach in die benachbarten Territorien gegangen. Und so sind in Franken und Schwaben (die erst später zu Bayern kamen, Anm. d. Red.) bedeutende Gemeinden entstanden, die bedeutendste in Fürth.

      Warum ausgerechnet in Fürth?

      Weil es in Fürth drei Ortsherrschaften gab: den Bamberger Dompropst, die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach und die Reichsstadt Nürnberg. In Fürth existierte auch eine hebräische Druckerei und eine wichtige Jeschiwa, eine Talmudschule, die Schüler aus ganz Europa angezogen hat. Dort ist der Schriftsteller Jakob Wassermann geboren, (…) der über die fränkischen Juden in seinem Buch „Die Juden von Zirndorf“ geschrieben hat. Aus Fürth stammt auch der frühere US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger.

      Wann hat sich die Situation der Juden in Bayern grundsätzlich zum besseren geändert?

      Im 19. Jahrhundert. Der langsame Prozess der Emanzipation und Gleichberechtigung der Juden war mit der Reichsgründung (des Deutschen Reichs, Anm. d. Red.) 1870/1871 abgeschlossen. In Bayern durften sich Juden aber in einzelnen Städten, beispielsweise in Nürnberg, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ansiedeln. Denn in Bayern gab es zwar 1813 schon das Judenedikt, das den Juden bestimmte Rechte eingeräumt hat, die sie vorher nicht hatten, aber eine Gleichberechtigung war das noch nicht. Zum Beispiel durfte sich an einem Ort nur eine maximale Anzahl von Juden ansiedeln. (…) Aufgrund dieser Beschränkungen sind sehr viele Juden nach Amerika ausgewandert.

      Trotz der anfänglichen Diskriminierung haben sich die Juden schließlich doch mit dem neuen bayerischen Staat identifiziert.

      Sie waren Teil dieser Kultur, des Wirtschaftslebens, der Literatur, der Kunst, des Sports, der Tracht. Ein Beispiel: Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts hat das (jüdische, Anm. d. Red.) Münchner Trachtenhaus Wallach mehr als alle anderen die bayerische Tracht populär gemacht. Oder im Brauwesen: Auch der Löwenbräu hat einer jüdischen Familie gehört.

      Und was passierte nach 1918?

      Nach dem 1. Weltkrieg wurde aus dem eher liberalen München des Kaiserreichs die Hauptstadt der Reaktion (antidemokratische Bewegung, Anm. d. Red.), der völkischen Bewegung und dann natürlich der NSDAP.

      Womit hängt dieser gesellschaftliche Wandel zusammen?

      1918 hat Kurt Eisner den „Freistaat Bayern“ gegründet und war auch dessen erster Ministerpräsident, der nach wenigen Monaten ermordet wurde. Viele Juden waren an der Gründung der Räterepublik beteiligt. Mit Gustav von Kahr, der in den ersten Wochen seiner Amtszeit (als bayerischer Ministerpräsident, Anm. d. Red.) Ostjuden aus Bayern ausgewiesen hat, begann dann die Zeit der politischen Reaktion. In München gab es bereits in den 1920er Jahren richtige Straßengewalt gegen jüdische Bürger der Stadt. Man suchte nach Sündenböcken für den verlorenen Krieg. Die Juden, obwohl sie genauso wie die anderen Deutschen gekämpft hatten und gefallen waren, wurden mit den Sozialisten dazu gemacht.

      Und wie haben sich die Kirchen zum wachsenden Antisemitismus verhalten?

      Es gab immer wieder vereinzelt Pfarrer am unteren Ende der kirchlichen Hierarchie, die sich 1933 gegen den Antisemitismus und die Judenverfolgung ausgesprochen haben. Manche haben die Unterstützung des Münchner Kardinals Faulhaber erbeten. Und diese ist ausgeblieben. Das muss man ganz eindeutig sagen. Faulhaber hat sich nie für die Juden, auch wenn sie öffentlich verfolgt wurden, eingesetzt. Auch wenn er 1933 die „Adventspredigten“ für das Alte Testament gehalten hat: Nichts davon hat die Juden seiner Gegenwart betroffen. Er hat die Juden der Bibel verteidigt, aber nicht die Juden des Jahres 1933, denen die Fensterscheiben eingeworfen oder die nach Dachau gebracht wurden. Auf protestantischer Seite gab es die „Deutschen Christen“, die versucht haben, Jesus zu „arisieren“. (...) Beide Kirchen wären wahrscheinlich die einzigen Autoritäten gewesen, die 1933 moralisch gegen die Judenverfolgung im Deutschen Reich eingreifen hätten können.

      Warum haben sie das nicht getan?

      Da war sicher auch Angst um die eigene Kirche dabei. Zum Anderen spielte dabei auch ein langer Antijudaismus in den Kirchen eine Rolle.

      Und wie ging es nach der NS-Zeit weiter?

      Nach 1945 wurde Bayern, vor allem Südbayern, aber auch Franken, noch einmal zu einem Zentrum jüdischen Lebens, unter anderem auch deswegen, weil in Bayern zwei der zuletzt befreiten Konzentrationslager, Dachau und Flossenbürg, liegen. 90 Prozent der jüdischen Gemeinden nach 1945 bestanden aus jüdischen Holocaust-Überlebenden aus Polen. Die meisten Gemeinden in Bayern waren sehr klein (…) und stark überaltert.

      Wann hat sich das geändert?

      Ab 1990 kam mit den Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion wieder Leben in diese Gemeinden. Das jüdische Leben hat sich in Bayern etabliert. In Bamberg, München und Regensburg wurden neue Synagogen gebaut. Trotzdem haben wir in den letzten Jahren zunehmend das Gefühl, dass jüdisches Leben bedroht ist. Der Anschlag in Halle 2019 war ja ein Anzeichen dafür. Es gab aber schon 1980 in Erlangen einen Mord an dem jüdischen Verleger Shlomo Lewin und seiner nichtjüdischen Lebensgefährtin Frida Poeschke, der von der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ ausging. 2003 hatten Neonazis einen Bombenanschlag bei der Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindezentrums in München geplant, der aber vereitelt wurde. Der Antisemitismus war und ist leider historisch ein Teil jüdischen Lebens – auch nach dem Holocaust.

      Worauf freuen Sie sich trotzdem, wenn Sie an das Festjahr 2021 denken?

      Ich freue mich auf die Vielfältigkeit dieser langen Geschichte. Man sollte noch stärker realisieren, wie lange Juden zu Deutschland gehören. Wahrscheinlich gab es in Deutschland schon Juden, bevor es die Christianisierung Germaniens gab. Wenn man das realisiert, kommt man zu der Erkenntnis, dass die Juden nicht „die Anderen“ sind, sondern Deutschland genauso (…) mitgeprägt haben und mitprägen.

      Interview: Stefan W. Römmelt (Würzburger katholisches Sonntagsblatt)