Vor 100 Jahren wurde der für seine Plakate und Piktogramme weltberühmte Graphiker in Ulm-Söflingen geboren, wo seine Eltern ihn im katholischen Glauben und in demokratischer Gesinnung erzogen. Er war ein entschiedener Jungkatholik und wollte sein Leben konsequent nach den Maßstäben des Augustinus ausrichten. Kein Wunder, dass der Sohn eines Heizungsbauers sich standhaft weigerte, der Hitlerjugend beizutreten – obwohl ihn diese geradlinige Haltung 1941 die Zulassung zum Abitur kostete. 1945 erhielt er es doch – nachträglich.
Sich im Krieg totschießen lassen, das wollte er nicht. Es heißt, er habe sogar versucht, sich dem Wehrdienst zu entziehen, indem er einen Heizkörper auf seine linke Hand fallen ließ. „Lieber krank daheim als gesund tot“, war sein Motto. Trotz drei steifer Finger wurde er 1941 als Funker bei der Artillerie eingezogen, erst an die russische, dann an die französische Front geschickt. Kurz vor Kriegsende 1945 desertierte Otl Aicher und überlebte, weil er im Schwarzwald Unterschlupf auf einem Bauernhof fand. Der Hof gehörte der Familie Scholl.
Im Umkreis der Weißen Rose
Kein Zufall. Werner Scholl war sein Klassenkamerad auf dem Gymnasium. Über ihn lernte er seine spätere Ehefrau Inge Scholl kennen, die nach der Hinrichtung von Hans und Sophie zum Katholizismus konvertierte. Obwohl er nicht direkt an der Flugblattaktion gegen das NS-Regime am 18. Februar 1943 im Lichthof der Münchner Universität mitwirkte, zählte Otl Aicher zum Unterstützerkreis der studentischen Widerstandsbewegung „Die Weiße Rose“, deren christlich-humanistische Werte er teilte.
1946 etablierte Inge Scholl in Ulm eine der ersten Volkshochschulen der Bundesrepublik, für die Aicher regelmäßig Plakate entwarf. Das Ziel dieser Einrichtung war nicht allein die Bildung, sondern – im „Andenken gegen Hitler“ – ebenso die Erziehung der Menschen zu gesellschaftspolitischem Engagement. Viele Vorträge befassten sich mit Politik, Religion, Philosophie und Psychologie.
Ziel: die „gute Form“
Wie eng das Ehepaar zusammenarbeitete, zeigt, dass es 1953 mit dem Schweizer Architekten und Bauhausschüler Max Bill die unabhängige, private Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm gründete. Trägerin war die von Inge Scholl 1950 ins Leben gerufene Geschwister-Scholl-Stiftung. Ihr Ziel: das Heranziehen einer Elite zur Erneuerung der Gesellschaft. Dass dies ausgerechnet im Bereich der Gestaltung gelingen sollte, ist weniger abwegig, als es auf den ersten Blick scheint. Im Mittelpunkt stand das Streben nach der „guten Form“ in Objekten und Gebäuden, die uns im Alltag umgeben: vom Design eines Kaffeelöffels bis hin zum Städtebau.
In einem vorbildlich gestalteten Umfeld werde der Geist geläutert und das Handeln von Vernunft bestimmt, lautet die Theorie, der auch Aicher anhing. Das populärste Design-Produkt der HfG ist Max Bills Ulmer Hocker. Er hat Kultstatus, weil er vielseitig einsetzbar ist – als Sitz, Beistelltisch, Tragehilfe, Regalteil und Rednerpult.
Dr. Martin Mäntele, der Leiter des Archivs der HfG, sieht die wichtigste Zäsur im 15-jährigen Bestehen der Hochschule darin, dass Aicher sich 1957 nach dem Weggang Max Bills vom vorherrschenden Einfluss der Bauhaus-Bewegung emanzipiert hat. Das Künstlerische trat in den Hintergrund, während wissenschaftliche Analyse und Technik eine größere Rolle spielten.
Politische Positionierung
So minimierte Aicher auch in seinen Plakaten das Dekorative zugunsten der klaren Kommunikation. Privat stellte der Vater von fünf Kindern diese Kommunikation gerne in den Dienst der Friedensbewegung: 1983 entwarf er Plakate gegen die Stationierung von Atomraketen „im schönsten Wiesengrunde“. „Das Schwabenland war zum Land geworden mit der größten Raketendichte der Erde“, stellte Aicher entsetzt fest. Dieses „zutiefst Widerständige“ fasziniert Mäntele an dem Ulmer Designer genauso wie seine Vielseitigkeit.
Breite öffentliche Bekanntheit erlangte Otl Aicher weniger als Hochschullehrer und zeitweise Rektor der HfG, auch nicht als Architekt und Photograph, sondern als Plakat- und Produktgestalter. 1962 prägte er das Erscheinungsbild der Lufthansa vom Kofferanhänger bis zum Bordgeschirr. Das „Corporate Design“ war geboren.
Olympia 1972
Zehn Jahre danach wartet eine Mammutaufgabe auf den Arbeitsbesessenen: Olympia 1972. Nicht das Schwarz-Rot-Gold der deutschen Nationalflagge dominiert, nicht die Farben martialisch-pathetisch-autoritärer Symbolik wie bei den olympischen Spielen 1936. 1972 sollten es friedliche und heitere Spiele werden. Das Farbkonzept seiner Olympia-Plakate zeugt vom neuen Zeitgefühl des freiheitlich-demokratischen Aufbruchs: Neben lichtem Himmelblau und Weiß überwiegen Hellorange, Sonnengelb, Grasgrün, die punktuell durch Dunkelgrün, Dunkelblau, teilweise Blauviolett und Silber ergänzt werden. In dieser Farbgebung gestaltet Aicher auch das Maskottchen der Sommerspiele, den Dackel Waldi.
Weiterhin zeichnet der Gestaltungsbeauftragte der Spiele verantwortlich für das Programmheft, die Eintrittskarten und die himmelblauen Uniformen der Hostessen. Eine von ihnen ist die spätere Königin Silvia von Schweden.
Unfalltod 1991
Für die einzelnen Sportarten und Serviceangebote erfindet Aicher ein Piktogrammsystem mit über 700 Bildzeichen. Von Kritikern einst als „Minimalschrift für Analphabeten“ verspottet, ist dieser visuelle Code heute noch weltweit an Flughäfen und Bahnhöfen im Gebrauch. Den Kern bilden die Symbole für die Sportarten, welche durch die Reduzierung der Bewegungen auf geometrische Formen gewonnen wurden. Archivleiter Mäntele erläutert: „Einzelne Piktogramme gab es schon vorher, aber nicht ein so klares und komplettes System aus einigen wenigen, wiederkehrenden Elementen.“ Besondere Bedeutung kommt der meist leicht versetzten Position des kreisrunden Kopfes zu, die der Bewegungslinie der dargestellten Sportart Rechnung trägt. Bei dieser sorgfältigen Simplifizierung zeigt sich ein weiteres Mal Aichers demokratischer Ansatz: Die Zeichen können unabhängig vom Bildungsgrad verstanden werden.
1991 starb Otl Aicher an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Kurz vor seinem Unfalltod wird der streng minimalistische Gestalter doch noch einmal zum Künstler. In seinem Rückzugsort in Leutkirch im Allgäu fertigt er heimlich Bronzebüsten von Hans und Sophie Scholl an.
Martina Herda
Ausstellungen: „Otl Aicher – 100 Jahre, 100 Plakate“, Archiv der Hochschule für Gestaltung Ulm, noch bis 8. Januar 2023, Eintritt 4,50 Euro (ermäßigt 3,50 Euro); „Protest gestalten – von Otl Aicher bis heute“, Museum Ulm, 12. November 2022 bis 16. April 2023, Eintritt 8 Euro (ermäßigt 6 Euro). Beide Ausstellungen sind täglich, außer montags, von 11 bis 17 Uhr geöffnet, am Wochenende bis 18 Uhr, Eintritt für Kinder und Jugendliche frei.