„Das Wort ist Fleisch geworden.“ Manche Zeitgenossen stoßen sich an der Formulierung.
Evangelium
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst. Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind. Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. Johannes 1,1–5.9–14 Ein Wort kann viel. Manchmal hebe ich einen Brief auf, um ihn immer wieder zu lesen, weil mich eine Formulierung reich beschenkt. Ähnliche Erfahrungen gibt es auch mit einer Zeile aus einem Buch. Aber ein Wort, mit dem jemand mich persönlich meint, ist mehr. Da geht es nämlich nicht nur um den Inhalt. Es geht um die Person und um unsere Beziehung. Wer mir etwas zusagt, sagt mehr als Etwas: Er oder sie legt sich selber in das Gesagte. Wer spricht, bleibt nicht in sich, sondern teilt sich mir mit. Am besten wissen das Liebende. Wer sagt: „Ich liebe Dich“, sagt viel mehr als einen Aussagesatz. Das ist eine Selbstoffenbarung, auch eine Einladung vom Ich zum Du und zum Wir. Wir glauben an einen Gott, der spricht: der sich nicht verschließt, sondern sich selbst mitteilt, der ein Wort für uns Menschen hat. Die jüdisch-christliche Bibel beginnt mit einem Gedicht darüber, dass Gott spricht und aus seinem Wort die Schöpfung entsteht. In den Wundern der Schöpfung können wir jeden Tag Gott entdecken, wie er zu uns spricht. Die Kinder, die uns Erwachsene mit der Fähigkeit zum Staunen weit übertreffen, sind ganz große Meister und Meisterinnen darin! Das Gedicht von der Schöpfung aus dem Wort hören wir in der Osternacht. Davon ist das heutige Evangelium inspiriert: „Im Anfang war das Wort.“ Auch das Johannesevangelium beginnt mit einem Gedicht über das Wort. Es erinnert an den Anfang der Bibel – und wird, was das Wort angeht, noch viel konkreter. „Wir wohnen / Wort an Wort / sag mir / dein liebstes / Freund / meines heißt Du“, heißt es in einem Gedicht von Rose Ausländer. Das Johannesevangelium ist getragen von der Überzeugung, dass das Wort Gottes ein ganz konkretes Du ist: Jesus Christus. In ihm sagt Gott sich uns selber zu – als Mensch für Menschen. „Das Wort ist Fleisch geworden.“ Manche Zeitgenossen stoßen sich an der Formulierung. Kann man nicht übersetzen: Mensch geworden? Im Original steht tatsächlich „Fleisch“. Das ist in der Bibel eine Umschreibung für alles Lebendige aus Fleisch und Blut, mit Haut und Haaren. Dazu gehört auch das Sterben-Müssen; denn kein Fleisch lebt ewig. Auf dieses radikal konkrete Fleisch lässt sich das Wort ein. Gott steckt in unserer Haut. Das ist skandalös. In der Kirchengeschichte hat dieser Skandal immer wieder zu Auseinandersetzungen geführt: Kann Gott wirklich so herunter-kommen? Im Mittelalter etwa halten die sogenannten Katharer unser Fleisch für minderwertig und unrein. Sie wollen rein leben (daher ihr Name: griechisch „kátharos“ = rein) und meinen, wenn sie ihr Fleisch quälen, übermäßig fasten oder sich nicht waschen, tun sie ihrer Seele Gutes. Hildegard von Bingen hat sich ihr ganzes Leben lang mit ihnen auseinandergesetzt und dabei das heutige Evangelium ausgelegt. Sie meint, wer unser Fleisch nicht wertschätzt, verstößt gegen die biblische Qualitätsaussage zur Schöpfung: „Gott sah, dass es gut war“ – und gegen den Kern des christlichen Glaubens. Denn wenn das Wort Fleisch wird, dann sagt Gott uns noch einmal in unserer Menschensprache zu, dass wir ihm wirklich gut gelungen sind. Da geht es um viel mehr als um dogmatische Spitzfindigkeiten! Hildegard wird ganz konkret: Es ist wichtig, genug zu essen und sich zu waschen.„Das Wort ist Fleisch geworden, denn Gott hatte das Fleisch brennend lieb!“ Ich mag ihre Formulierung sehr: Ein Gott, der das Fleisch brennend lieb hat, überfordert mich nicht. Er macht mir Mut, mich selber mit Haut und Haaren anzunehmen, weil er mich angenommen hat. Er ist mein; ich bin sein. Da fehlen mir die Worte. Der Rest ist erfülltes Schweigen: Staunen und Anbeten.Die Autorin ist Rektorin des Martinushauses in Aschaffenburg.