Dass viele Leute hierzulande verschrobene Ansichten und absonderliche Ideen haben, wird dieser Tage durch die Corona-Pandemie offenbar. Verschwörungstheorien werden wissenschaftlichen Fakten gegenübergestellt. Lohmayer wundert das überhaupt nicht. Dem Theologen, der das Referat für Weltanschauungsfragen seit zehn Jahren leitet, ist inzwischen fast nichts Menschliches mehr fremd. Seit er in dem Bereich tätig ist, kommen ihm die verrücktesten Gruppen und die skurrilsten Theorien unter. Nahezu wöchentlich füllt sich sein Computer-Ordner weiter. Aktuell sind darin die Namen von rund 1400 Gruppen und Einzelpersonen mit sonderbaren weltanschaulichen Thesen erfasst.
Drei große Bedürfnisse
Fast scheint es so, als lebten wir im Zeitalter der Esoterik. Vor allem im Internet tummeln sich alternative Heiler, Exorzisten, Weissager, Schamanen, Lebenshelfer und Propheten. „Der Markt der Möglichkeiten differenziert sich immer weiter aus“, berichtet Lohmayer. Er selbst kennt heute etwa doppelt so viele Gruppen und Personen wie bei seinem Amtsantritt 2010. Wie wichtig das Thema ist, zeigt ihm die in diesem Jahr erfolgte Eröffnung der „Zebra“ genannten „Zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen“ in Baden-Württemberg als Reaktion auf die massive Zunahme von Verschwörungstheorien.
Leute, die vorgeben, sie wären an mentaler Kraft anderen weit überlegen, offerieren im Internet eine Fülle von Angeboten für Zeitgenossen, die sich in einer schweren Krise befinden, Selbstzweifel haben oder auf der Suche nach einem Sinn im Leben sind. Sie bedienen laut Lohmayer drei große Bedürfnisse. Da ist zum einen das Verlangen nach Selbstoptimierung: Man möchte besser werden, als man derzeit ist. Hinzu gesellt sich das Bedürfnis nach Selbsterlösung: Man möchte nicht mehr leiden und sich quälen. Aber es gibt auch Personen, die sich ganz schlicht nach Selbstermächtigung sehnen. Sie möchten erleben, dass sie die Dinge beeinflussen können.
Die esoterischen Angebote ermöglichen, aus dem Alltag auszubrechen. Die eigenen Probleme sind plötzlich nicht mehr so wichtig, sie werden stundenweise sogar völlig vergessen. Die Gemeinschaft, in der man aufgenommen wurde und die einen schätzt, tut unendlich gut.
„Die Angebote werden als eine echte Hilfe erlebt“, unterstreicht Lohmayer. Dass sie in diesem Moment tatsächlich eine Hilfe sind, verhehlt er auch nicht im Gespräch mit Angehörigen, die sich an ihn wenden, weil sie in großer Sorge sind, dass ihr Ehepartner, ihr Sohn oder die Tochter vollends „abdriftet“.
Viele Angebote
Wer noch nie etwas mit Esoterik zu tun hatte, könne sich laut Lohmayer gar nicht vorstellen, was es auf dem „Markt der Möglichkeiten“ so alles gibt. Da werden „Energiemassagen“ und die heilende Kraft von Mantras offeriert, Begegnungen mit „Diamantwesen“ werden ver- sprochen, „Astralreisen“ sollen außerkörperliche Erfahrungen möglich machen. „Oft wird eine eigene Sprache benutzt“, ergänzt Lohmayer. Das weckt Neugier und steigert die Erwartung. Für so gut wie jeden auf der Suche oder in einer Krise gebe es heute ein Angebot, das zu ihm passt „wie der Schlüssel ins Schloss“.
Lösung schwierig
Angehörigen gibt Lohmayer zu bedenken, dass die Person, die bei einem Heiler gelandet ist, tatsächlich Hilfe braucht. Und dass sie sich Hilfe auf noch gefährlicheren Wegen hätte suchen können.
Inge W. (Name geändert) zum Beispiel, deren Mutter Lohmayer gerade berät, hat mit 24 Jahren schon so viele negative Erfahrungen gemacht, dass sie an manchen Tagen daran dachte, sich umzubringen. Enge Freunde führten sie jenem Heiler zu, der sie auf Anhieb begeistert hat. Was er lehrt, ist höchst obskur. Doch: Inge W. lebt, hat keine Suizidgedanken mehr. Lohmayer: „In ihrer Not hätte sie ja auch zu Alkohol oder Drogen greifen können.“ Natürlich sei es für die Eltern schlimm, wenn der einzige Sohn oder die geliebte Tochter in Kreise gerät, die höchst merkwürdige Theorien verbreiten. „Doch die Realität ist nicht nur schwarz und weiß“, versucht Lohmayer den Angehörigen zu vermitteln.
Auch greift das Täter-Opfer-Schema im Falle von weltanschaulich fragwürdigen Gruppen zu kurz. „Denn der Opferstatus hört nicht auf, wenn der Täter verschwindet.“ Würde es der Mutter gelingen, die Tochter aus den Fängen des Heilers zu befreien, wäre die wieder dort, wo sie gewesen war: Bei ihren schlimmen Erinnerungen, bei ihren beruflichen Problemen und bei ihren massiven Minderwertigkeitsgefühlen.
Ratsuchende erwarten oft ein eindeutiges Credo des „Sektenbeauftragten“, wie Lohmayers Amt früher hieß, nach dem Motto: „Esoterik ist schlecht“. Im Kern, sagt der 57-Jährige, gehe es auf dem weiten Feld der Esoterik aber letztlich um den Wunsch, Komplexität zu reduzieren. Man hätte es gern eindeutig. Hätte die Welt gern schwarz oder weiß. Doch die Welt ist komplex, ist vielschichtig. Und sie wird jeden Tag komplexer. Wer nicht gelernt hat, Komplexität auszuhalten, und wer nicht die Fähigkeit besitzt, Differenzen zu ertragen, sehnt sich nach einfachen Antworten. Womöglich deshalb, mutmaßt der Spezialist für Esoterik, haben entsprechende Personen und Gruppen einen so großen Zulauf.
Klassiker und Neue
Die „Klassiker“ der Sektenszene spielen im Übrigen längst nicht mehr die größte Rolle, berichtet Lohmayer. Kaum jemand wende sich an ihn, weil sich ein Angehöriger den Zeugen Jehovas oder der Scientology-Bewegung angeschlossen habe. An Stelle solcher traditionellen Gruppierungen käme neue auf, wie zum Beispiel die derzeit in den regionalen Medien verstärkt in die öffentliche Aufmerksamkeit getretene „Entwicklungsgemeinschaft“ namens „Go & Change“. Die hat sich 2017 im ehemaligen Kloster „Maria Schnee“ am Ortsrand von Lülsfeld (Dekanat Schweinfurt-Süd) niedergelassen. Aussteiger erhoben kürzlich schwere Vorwürfe gegen das, was ihnen dort widerahren ist.
Die dreiste Behauptung einer Person, sie sei in der Lage, mit Engeln oder „Diamantwesen“ zu kommunizieren, ist für nüchterne Leute, die so etwas für völlig abwegig halten, schlicht lächerlich. Gefährlich würden widersinnige Theorien aber, wenn sie sich in diffamierender oder diskriminierender Weise gegen andere richten.
Das Phänomen, dass sich esoterisches Denken mit rechtspopulistischen Ansichten mische, habe laut Lohmayer in den zehn Jahren, seit er im Amt, ist, deutlich zugenommen. Er nahm 2015 erstmals an einer Tagung von Weltanschauungsbeauftragten teil, bei der es um „Reichsbürger“ ging. Weil er qualifizierte Arbeit leisten möchte, besucht er regelmäßig Konferenzen und recherchiert viel, um auf dem aktuellen Stand zu sein.
Denkvorschriften
Dabei scheut sich der Theologe nicht, kritische Bewegungen innerhalb der Kirche unter die Lupe zu nehmen. So gebe es christliche Gemeinschaften, in denen die Mitglieder, wie in Psychogruppen oder Guru-Bewegungen „geistlich missbraucht“ würden. Ein Mächtiger oder eine Mächtige an der Spitze bestimmen in diesen Gemeinschaften, wie man sich zu kleiden habe, was man essen dürfe und was nicht, und was man denken dürfe. Damit packt Lohmayer ein heißes Eisen an. Mut macht ihm die Theologin Doris Reisinger, die kurz nach ihrem Abitur 2003 der Geistlichen Familie „Das Werk“ beigetreten ist. Unter dem Titel „Nicht mehr ich“ enthüllte sie 2014 ihren Missbrauch als Ordensfrau dieser Gemeinschaft. Vorletztes Jahr legte sie zusammen mit Klaus Mertens das Buch „Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche“ vor.
Pat Christ
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