Beim Blick auf die zahlreichen Veröffentlichungen zum 40-jährigen „Konzilsjubiläum“ zeigt sich die Spannweite der Deutungen schon in den Überschriften: Während zum Beispiel Kardinal Karl Lehmann von „kraftvoll-lebendiger Erinnerung bis heute“ spricht, lautet der Titel einer Konzilsbilanz des Wiener Weihbischofs Helmut Krätzl: „Im Sprung gehemmt“ und signalisiert schon durch diese Formulierung die These, dass viele Impulse dieser epochalen Kirchenversammlung auf der Strecke geblieben seien.
Papst Johannes XXIII.
Bevor man sich auf eine Sichtweise festlegt, sollte man besser fragen, ob denn die Außenwahrnehmung des Konzils in jedem Fall mit seiner inneren Absicht zur Deckung kommt. Die Außenwahrnehmung liest sich in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ so: „Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie radikal der Wandel war. Das Latein ist weg, der Pfarrer schaut das Kirchenvolk an, am Karfreitag betet die Kirche nicht mehr für die treulosen Juden, und der Bischof warnt die katholische Jugend nicht mehr davor, sich in Lutherische zu verlieben.“ Hier richtet sich der Blick auf das veränderte Erscheinungsbild der Kirche; die ursprüngliche Absicht des Konzils war jedoch eher eine „Kontinuität im Wandel“. Papst Johannes XXIII. hat das Grundanliegen der von ihm einberufenen Bischofsversammlung selbst mit dem Wort „aggiornamento“ umschrieben. Wörtlich bedeutet das: etwas auf den Tag bringen, von „aggiornare“. Gemeint ist: die Glaubensbotschaft der Kirche, aber auch alle ihre Lebensäußerungen, den gegenwärtigen Menschen ihn ihrem Verständnishorizont, ihren Erwartungen und Sehnsüchten so zu vermitteln, dass sie diese verstehen und annehmen; insbesondere solle den nicht katholischen Christen die katholische Überlieferung der Christusbotschaft so nahe gebracht werden, dass diese sich darin wieder finden könnten. Was dem Papst vorschwebte, war eine Erneuerung der kirchlichen Formenwelt und, was speziell die Glaubenslehre angeht, ging es ihm vor allem um die Sprache, den rechten Ausdruck, nicht so sehr um spekulative theologische Gedankengänge und rechtliche Abgrenzungen. Wenn man das Anliegen von Papst Johannes in einer Kurzformel zusammenfassen wollte, könnte diese so lauten: „Das Alte und bleibend Gültige neu sagen“.
zu verstehen beginnen“
Zum Ausdruck kommt diese Intention auch in seinem letzten Tagebucheintrag vom 24. Mai 1963. Dort steht: „Es ist nicht das Evangelium, das sich verändert. Wir sind es, die es besser zu verstehen beginnen. Der Moment ist gekommen, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die Gelegenheiten zu ergreifen, die sie uns bieten, und weit vorauszuschauen.“ Nach seinem Tod hat Papst Paul VI. dieses Anliegen weitergeführt. Von „radikalen Änderungen“, die das Konzil gebracht habe, lässt sich also nur sprechen, wenn man das Wort von seiner Ursprungsbedeutung her übersetzt: „Radikal“ bedeutet dann, sich neu auf die Kraft der Wurzeln im Glauben zu besinnen. Ich möchte diesen Weg nachzeichnen, indem ich in einem ersten Teil meiner Serie kurz auf die Vorgeschichte und den Verlauf des Konzils eingehe, in einem zweiten, etwas längeren Teil wesentliche Aussagen herausstelle und in einem letzten, wieder etwas kürzeren Abschnitt, nach der Wirkungsgeschichte der Konzilstexte und ihren Zukunftsperspektiven frage.
Die nächste Folge beschreibt die Vorgeschichte und den Ablauf des Konzils.