Geschlossen wie eine Wagenburg und standfest wie ein Fels, an dem sich die sturmgepeitschte See bricht – so präsentiert sich der Katholizismus in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach dem Krieg. Nicht nur in Deutschland, auch in anderen Ländern entwickelt die Kirche eine eindrucksvolle Anziehungskraft. Aber unverkennbar bröckelt schon der Putz am gepflegten katholischen Haus. Die fünfziger Jahre lassen spüren, dass die Zeit eher gegen die Kirche als für sie arbeitet. Die Notwendigkeit einer Erneuerung erkennt Papst Johannes XXIII. am Ende des Jahrzehnts als Gebot der Stunde.
Gefüllte Kirchen, Klöster und Priesterseminare verleihen aus heutiger Sicht dem Katholizismus der Nachkriegsjahre sein Profil. Religion und Kirche ziehen die Menschen an in dieser Zeit. 1949 werden im Bistum Würzburg 31 Männer zu Weltpriestern geweiht, 1953 sind es sogar 39. Zwar liegen die Zahlen in anderen Jahren weit darunter, aber Weihejahrgänge mit mehr als 20 Seminaristen gibt es noch Anfang der sechziger Jahre. Die Klöster können ebenfalls stattliche Zahlen vorweisen. Die in Würzburg beheimatete Kongregation der Töchter des Allerheiligsten Erlösers verzeichnet 1951 58 Einkleidungen, also Neueintritte in die Ordensgemeinschaft. 1962 treten 34 Frauen der Kongregation bei. Die Kirchgängerzahlen ergänzen das freundliche Bild der katholischen Statistik. Am Osterfest des Jahres 1948 empfangen 64,4 Prozent aller Katholiken in der Diözese die heilige Kommunion, zwölf Jahre später sind es im Westteil des Bistums – ohne den Thüringer Diözesanteil – 68,5 Prozent. Die jährlichen Zählungen der Kirchenbesucher ergeben, dass 1948 durchschnittlich 58,7 Prozent aller im Bistum lebenden Katholiken den Sonntagsgottesdienst besuchen, im Jahr 1960 liegt der Wert – wiederum im Westteil – bei 56,8 Prozent. Nicht allein Messfeiern, auch kirchliche Großveranstaltungen locken die Menschen aus ihren Häusern. Im Spätsommer 1951 finden an drei aufeinander folgenden Sonntagen in Ochsenfurt, Aschaffenburg und Schweinfurt unterfränkische Katholikentage statt. Die Idee der unterfränkischen Katholikentage stammt von Bischof Julius Döpfner. Das Flair der Großveranstaltungen soll auch die Gläubigen erreichen, die keine weiten Reisen unternehmen können. An jedem der drei Veranstaltungsorte predigt der Bischof vor Zehntausenden von Zuhörern. Welchen Wert die Diözese auf eine machtvolle Inszenierung legt, zeigt der Bericht des Sonntagsblatts über den letzten Katholikentag am 9. September 1951 im Schweinfurter Willy-Sachs-Stadion: „Die fast 500 Banner und Wimpel der Jugend boten ein unerhörtes Bild der Farben- und Symbolfreude. Hunderte von Ordensschwestern und Priestern mit ihren schwarzen Schleiern beziehungsweise weißen Chorröcken folgten. Weit über 400 Ministranten waren zu diesem Pontifikalgottesdienst aufgeboten, alle im roten Röcklein und wohlgeordnet in Sechserreihen.“
1200 Jahre Kiliansverehrung
Ein Schauspiel fränkischer Glaubensverwurzelung bietet auch das folgende Jahr, in dem die Diözese das 1200-jährige Jubiläum der Verehrung des heiligen Kilian und seiner Gefährten feiert. In der Kilianiwoche 1952 strömen täglich Tausende von Gläubigen aus allen Dekanaten des Bistums in Sonderzügen und Autobussen nach Würzburg. Sie wollen die Pontifikalgottesdienste miterleben, die von Mitgliedern des deutschen Episkopats gefeiert werden. Da keine Kirche die Menschenmassen fassen kann, werden vor der Domfassade Open-Air-Gottesdienste zelebriert.
Der Pilgerstrom in der Kilianifestwoche 1952 vermittelt einen Eindruck von der öffentlichen Wirksamkeit des Katholizismus in den Nachkriegsjahren. Das Haus der Kirche steht auf festem Grund, möchte man meinen. Die Spitze der kirchlichen Hierarchie ist von unbekümmerter Freude aber weit entfernt. Aus den offiziellen kirchlichen Verlautbarungen jener Zeit spricht Sorge: „Wer glauben möchte, daß die deutliche Sprache, die Gott in Kriegsgewittern gesprochen hat, genügen würde, die Menschen zur tieferen Besinnung auf ihr ewiges Heil, zur glühenderen Christusliebe und zur größeren Kirchentreue führen würde, hat sich vielfach sehr getäuscht. Wir sehen Kräfte am Werke, die an den Grundmauern des christlichen Glaubens und der christlichen Sitte rütteln“, warnen die deutschen Bischöfe im August 1947. Der Papst ist ebenfalls besorgt. 1950 veröffentlicht Pius XII. seine Enzyklika „Humani generis“. Das Rundschreiben setzt sich mit einer Gegenwart auseinander, in der „wir überall Angriffe gegen die Grundlagen der christlichen Kultur wahrnehmen“. Der Papst spricht vom dogmatischen „Relativismus“ der Gegenwart und von vielfältigen Versuchen, die Autorität der Heiligen Schrift und des kirchlichen Lehramtes auszuhöhlen. Verlautbarungen dieser Art zeigen, dass Papst und Bischöfe schon in den ersten Jahren nach dem Krieg den kirchlichen Bedeutungsverlust in der modernen Gesellschaft fürchten. Wetterzeichen am Horizont, die diesen Bedeutungsverlust ankündigen, gibt es zur Genüge. Das Studium der Statistik ergibt, dass die Zahl der Priesterweihen, Ordenseintritte und Messbesuche in früheren Jahrzehnten teilweise deutlich höher ausfiel als zu Beginn der fünfziger Jahre. Die vollen Kirchen und Klöster können nicht verbergen, dass die kulturelle Gestaltungskraft von Religion und Kirche eher ab- als zunimmt.
Totengräber der Sittlichkeit
Ein paar Beispiele: In ihrem Rundbrief vom 20. Januar 1950 fordert die Diözesanjugendführung die Mitglieder des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) im Bistum dazu auf, alle Tanzformen zu meiden, die „mit fränkischer Sitte unvereinbarlich sind“ und durch die „die Gesetze des Anstands und der guten Sitte verletzt werden“. Der Würzburger BDKJ greift damit ein Anliegen auf, das Papst Pius XII. ebenfalls am Herzen liegt. Modetänze wie Mambo, Jitterbug und Boogie-Woogie stehen im Verdacht, Totengräber der Sittlichkeit zu sein. Trotzdem – oder gerade deswegen – elektrisieren sie den Nachwuchs und schaffen eine westliche Jugendkultur, die mühelos Ländergrenzen überspringt. Die Verleihung des Literaturnobelpreises an den amerikanischen Schriftsteller Ernest Hemingway nimmt das Sonntagsblatt im November 1954 zum Anlass für einen kulturpessimistischen Rundumschlag. Der Träger des Literaturpreises unterscheide sich „in Wirklichkeit kaum von den Preisträgerinnen der Schönheitswettbewerbe, deren aufdringliches Überhandnehmen in letzter Zeit den Heiligen Vater zu öffentlichen Ermahnungen veranlaßte. Doch fast muß an der Wirksamkeit dieser Warnungen gezweifelt werden, nachdem die höchsten Spitzen der abendländischen Gesellschaft restlos den sogenannten fortschrittlichen Anschauungen über Kunst, Moral und Tradition zum Opfer gefallen zu sein scheinen.“ Den gesamten Text finden sie im Würzburger katholischen Sonntagsblatt vom 27. September 2009.