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Der Glückshafen auf dem Friedhof von Acholshausen
Es war kein Sonntag wie jeder andere. Der Tod eines entfernten
Verwandten, der „plötzlich und unerwartet“ gestorben war, ging Herbert
ziemlich nahe. Er hatte zwar kaum Kontakt zu ihm gepflegt, aber war von
den seltenen Begegnungen mit Paul, die immer mir tiefsinnigen
Gesprächen ausgefüllt waren, noch immer beeindruckt. Mit dem
Verstorbenen, der im Verwandtenkreis nie viel Aufhebens von sich
gemacht hatte und den Austausch über Alltagsphilosophie schätzte,
verstand er sich, auch wenn er die Freundschaft mit ihm nicht intensiv
gepflegt hatte. Wo war er eigentlich noch begraben? Das musste doch
irgendwo im Ochsenfurter Gau gewesen sein. Und an der Friedhofsmauer
dort war ihm nach der Beerdigung etwas Merkwürdiges aufgefallen, das
ihn damals schmunzeln ließ. In einer Nische war eine Tafel aufgestellt,
auf der „Geistlicher Glückshafen“ zu lesen stand. Darunter folgte eine
Reihe von Empfehlungen, für Leute aus verschiedenen Anlässen heraus zu
beten.
Unter der Tafel hatte sich damals ein weiß lackierter Metallkasten mit Münzen in verschiedenen Farben befunden. Jede trug eine eigene Zahl.
Die Beerdigung hatte ihm keine Zeit gelassen, sich weiter mit diesem Glückshafen zu befassen. Doch seine Neugier war geweckt. Und er nahm sich vor, beim nächsten Friedhofsbesuch mehr Zeit mitzubringen. Dass darüber Jahre vergehen sollten, war ihm damals nicht bewusst. Zwar musste er immer wieder an Gespräche mit dem verstorbenen Verwandten denken. Die Gelegenheit bot sich ihm immer wieder, weil er selbst gerne über Gott und die Welt nachdachte. So lebte auch die Erinnerung an Paul in ihm fort. War so vielleicht auch das Fortleben nach dem Tod gemeint?
Solche Fragen beschäftigten ihn auch an diesem Sonntag, der mit seiner trüben Spätherbststimmung so richtig zum Grübeln provozierte. „Du musst raus, auf andere Gedanken kommen“, dachte er bei sich. Selbst bei Tag musste er die Deckenbeleuchtung einschalten, um das Halbdunkel aus dem Zimmer zu verscheuchen. Nachdem er sich dazu durchgerungen hatte, den bequemen Trainingsanzug mit Straßenkleidung zu vertauschen, steckte er sich die Autoschlüssel ein und verließ beinahe fluchtartig die Wohnung. Doch wohin sollte es gehen? Herbert fuhr zunächst ziellos durch Würzburg und nahm endlich die Ausfallstraße in Richtung Bad Mergentheim. Dort konnte man vielleicht durch den Park bummeln, Kaffee trinken, überhaupt auf andere Gedanken kommen.
Hinter Giebelstadt streifte sein Blick bei der Fahrt den verlassen daliegenden Flugplatz, hinter dem eine Abzweigung nach links in Richtung Ochsenfurt führte. Sollte er die Abfahrt nehmen? Irgendwie öffnete sich in seinem Gedächtnis eine Schublade. War ihm bei der Fahrt zur Beerdigung nicht auch der Flugplatz aufgefallen?
Er entschloss sich, abzubiegen. Schnurgerade führte die Straße am Zaun des Flugfeldes entlang. Nur ein wenig später fiel sein Blick auf das Hinweisschild nach Acholshausen. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. So hieß doch der Ort, an dem sie Paul beerdigt hatten? Prompt bog er ab und fuhr in einer Kehre das Gefälle zum Ortseingang hinunter.
Beinahe hätte er den Friedhof übersehen, der zur linken Hand lag. Herbert parkte sein Auto auf dem kleinen Parkplatz und betrat gespannt den Friedhof. Wo war die Nische? Ein Blick nach links, wo ihm zunächst die Wasserzapfstelle auffiel. Doch dahinter wartete schon der Glückshafen. „Eigentlich ein sonderbarer Begriff“, dachte er beiläufig. So etwas kannte er von der Kirmes, wo das Rote Kreuz oder eine andere soziale Organisation Lose verkaufte. Wie kam dann diese Tafel mit der Einladung zum Gebet zu einem solchen Namen? Sinnend betrachtete er das Umfeld. Eine alte Frau, den Rücken gebeugt, näherte sich und verweilte vor der Nische. Dann setzte sie die mitgebrachte Gießkanne ab, griff zu einer Münze, verglich die Zahl darauf mit dem entsprechenden Gebetsanliegen und schmunzelte. Anschließend drehte sie sich um. Ihre Augen überflogen die wenigen Gräberreihen. Sie senkte den Kopf, faltete die Hände und blieb in dieser Haltung – ein Vater unser und mehrere Ave Maria lang. Verstohlen blickte sie darauf zu Herbert, der dem Geschehen zunächst mit einem verwunderten Gesichtsausdruck gefolgt war. Sie hob die leere Gießkanne auf und verließ den Friedhof. Irgendwie sah sie erleichtert aus, als habe sie ein gutes Werk getan.
Herbert trat jetzt ganz dicht an die Tafel heran, um die altertümlich wirkende Schrift zu entziffern. Da stand zu lesen, man solle mehrere Vaterunser und Ave Maria beten. Darunter folgten 70 Fürbitten, zum Beispiel „Für die Seelen derer, die putzsüchtig waren“. Auch Naschsüchtige oder etwa Kirchenschwätzer wurden dem Gebet empfohlen. Herbert erklärte sich das Schmunzeln der alten Frau damit, dass das Münzlos vielleicht solche armen Seelen getroffen hatte, und die Frau beim Betrachten der Gräber an bestimmte Betroffene gedacht haben mag. Und auch er überlegte sich, ob er nicht eine Münze als Glückslos für eine Gruppe Verstorbener ziehen sollte. Doch dann las er „Für die Seelen derer, für die niemand betet“. Kurz entschlossen entschied er sich für Nummer 15, ohne lange nach der entsprechenden Münze zu suchen. Vollständig waren sie eh nicht mehr. Insgeheim erinnerte er sich daran, dass er einmal gehört oder gelesen hatte, dass man mit Gebet die Zeit abkürze, die eine arme Seele im Fegfeuer verbringen müsse. „Ihr habt Glück“, jubelte er in seinem Inneren, weil er sich sicher war, mit der Nummer 15 in jedem Fall das richtige Los gezogen zu haben. Und er senkte, wie die alte Frau vor ihm, den Kopf zum Gebet.
Lange verweilte er so, weil ihn auf einmal ein innerer Frieden ergriff. Er war froh und dankbar, dass ihn der Weg auf diesen Friedhof geführt hatte. Als ob alle Welt sich mit ihm freute, brach über ihm die Wolkendecke auf, und die letzten Strahlen der allmählich untergehenden Sonne tauchten die Gräberreihen in ein warmes Licht. Herberts Brust weitete sich. Das beengende Gefühl, das ihn bisher durch den trüben Sonntag begleitet hatte, verflog. Er sah sich plötzlich von Unbekannten umringt, die ihm durch sein Gebet zu Freunden geworden waren. Glückshafen. Dieser Begriff hatte für ihn eine völlig neue Bedeutung gewonnen. Mit schon fast beschwingtem Schritt steuerte er schließlich das Grab von Paul an, dankte ihm dafür, dass dieser ihn eigentlich hierher geführt hatte – und winkte ihm beim Abschied zu.
Unter der Tafel hatte sich damals ein weiß lackierter Metallkasten mit Münzen in verschiedenen Farben befunden. Jede trug eine eigene Zahl.
Die Beerdigung hatte ihm keine Zeit gelassen, sich weiter mit diesem Glückshafen zu befassen. Doch seine Neugier war geweckt. Und er nahm sich vor, beim nächsten Friedhofsbesuch mehr Zeit mitzubringen. Dass darüber Jahre vergehen sollten, war ihm damals nicht bewusst. Zwar musste er immer wieder an Gespräche mit dem verstorbenen Verwandten denken. Die Gelegenheit bot sich ihm immer wieder, weil er selbst gerne über Gott und die Welt nachdachte. So lebte auch die Erinnerung an Paul in ihm fort. War so vielleicht auch das Fortleben nach dem Tod gemeint?
Solche Fragen beschäftigten ihn auch an diesem Sonntag, der mit seiner trüben Spätherbststimmung so richtig zum Grübeln provozierte. „Du musst raus, auf andere Gedanken kommen“, dachte er bei sich. Selbst bei Tag musste er die Deckenbeleuchtung einschalten, um das Halbdunkel aus dem Zimmer zu verscheuchen. Nachdem er sich dazu durchgerungen hatte, den bequemen Trainingsanzug mit Straßenkleidung zu vertauschen, steckte er sich die Autoschlüssel ein und verließ beinahe fluchtartig die Wohnung. Doch wohin sollte es gehen? Herbert fuhr zunächst ziellos durch Würzburg und nahm endlich die Ausfallstraße in Richtung Bad Mergentheim. Dort konnte man vielleicht durch den Park bummeln, Kaffee trinken, überhaupt auf andere Gedanken kommen.
Hinter Giebelstadt streifte sein Blick bei der Fahrt den verlassen daliegenden Flugplatz, hinter dem eine Abzweigung nach links in Richtung Ochsenfurt führte. Sollte er die Abfahrt nehmen? Irgendwie öffnete sich in seinem Gedächtnis eine Schublade. War ihm bei der Fahrt zur Beerdigung nicht auch der Flugplatz aufgefallen?
Er entschloss sich, abzubiegen. Schnurgerade führte die Straße am Zaun des Flugfeldes entlang. Nur ein wenig später fiel sein Blick auf das Hinweisschild nach Acholshausen. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. So hieß doch der Ort, an dem sie Paul beerdigt hatten? Prompt bog er ab und fuhr in einer Kehre das Gefälle zum Ortseingang hinunter.
Beinahe hätte er den Friedhof übersehen, der zur linken Hand lag. Herbert parkte sein Auto auf dem kleinen Parkplatz und betrat gespannt den Friedhof. Wo war die Nische? Ein Blick nach links, wo ihm zunächst die Wasserzapfstelle auffiel. Doch dahinter wartete schon der Glückshafen. „Eigentlich ein sonderbarer Begriff“, dachte er beiläufig. So etwas kannte er von der Kirmes, wo das Rote Kreuz oder eine andere soziale Organisation Lose verkaufte. Wie kam dann diese Tafel mit der Einladung zum Gebet zu einem solchen Namen? Sinnend betrachtete er das Umfeld. Eine alte Frau, den Rücken gebeugt, näherte sich und verweilte vor der Nische. Dann setzte sie die mitgebrachte Gießkanne ab, griff zu einer Münze, verglich die Zahl darauf mit dem entsprechenden Gebetsanliegen und schmunzelte. Anschließend drehte sie sich um. Ihre Augen überflogen die wenigen Gräberreihen. Sie senkte den Kopf, faltete die Hände und blieb in dieser Haltung – ein Vater unser und mehrere Ave Maria lang. Verstohlen blickte sie darauf zu Herbert, der dem Geschehen zunächst mit einem verwunderten Gesichtsausdruck gefolgt war. Sie hob die leere Gießkanne auf und verließ den Friedhof. Irgendwie sah sie erleichtert aus, als habe sie ein gutes Werk getan.
Herbert trat jetzt ganz dicht an die Tafel heran, um die altertümlich wirkende Schrift zu entziffern. Da stand zu lesen, man solle mehrere Vaterunser und Ave Maria beten. Darunter folgten 70 Fürbitten, zum Beispiel „Für die Seelen derer, die putzsüchtig waren“. Auch Naschsüchtige oder etwa Kirchenschwätzer wurden dem Gebet empfohlen. Herbert erklärte sich das Schmunzeln der alten Frau damit, dass das Münzlos vielleicht solche armen Seelen getroffen hatte, und die Frau beim Betrachten der Gräber an bestimmte Betroffene gedacht haben mag. Und auch er überlegte sich, ob er nicht eine Münze als Glückslos für eine Gruppe Verstorbener ziehen sollte. Doch dann las er „Für die Seelen derer, für die niemand betet“. Kurz entschlossen entschied er sich für Nummer 15, ohne lange nach der entsprechenden Münze zu suchen. Vollständig waren sie eh nicht mehr. Insgeheim erinnerte er sich daran, dass er einmal gehört oder gelesen hatte, dass man mit Gebet die Zeit abkürze, die eine arme Seele im Fegfeuer verbringen müsse. „Ihr habt Glück“, jubelte er in seinem Inneren, weil er sich sicher war, mit der Nummer 15 in jedem Fall das richtige Los gezogen zu haben. Und er senkte, wie die alte Frau vor ihm, den Kopf zum Gebet.
Lange verweilte er so, weil ihn auf einmal ein innerer Frieden ergriff. Er war froh und dankbar, dass ihn der Weg auf diesen Friedhof geführt hatte. Als ob alle Welt sich mit ihm freute, brach über ihm die Wolkendecke auf, und die letzten Strahlen der allmählich untergehenden Sonne tauchten die Gräberreihen in ein warmes Licht. Herberts Brust weitete sich. Das beengende Gefühl, das ihn bisher durch den trüben Sonntag begleitet hatte, verflog. Er sah sich plötzlich von Unbekannten umringt, die ihm durch sein Gebet zu Freunden geworden waren. Glückshafen. Dieser Begriff hatte für ihn eine völlig neue Bedeutung gewonnen. Mit schon fast beschwingtem Schritt steuerte er schließlich das Grab von Paul an, dankte ihm dafür, dass dieser ihn eigentlich hierher geführt hatte – und winkte ihm beim Abschied zu.