Evangelium
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten. Und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll. Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird. Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, sondern ich komme wieder zu euch. Nur noch kurze Zeit, und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich, weil ich lebe und weil auch ihr leben werdet. An jenem Tag werdet ihr erkennen: Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir, und ich bin in euch. Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer mich aber liebt, wird von meinem Vater geliebt werden, und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren.
Johannes 14,15–21
Was ist Wahrheit?“, so fragte Pilatus einst den angeklagten Jesus von Nazaret im Verhör. Jesus hatte bereits zuvor ganz eindeutig Stellung bezogen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“. So steht es im Evangeliumstext vom vergangenen Sonntag.
„Was ist Wahrheit?“ Diese Frage wird durch die herrschende Partei in George Orwells Roman „1984“ so beantwortet: Wahrheit ist das, was die Partei für richtig erklärt. Und wenn sich die Parteimeinung einmal ändert, dann sind die Mitarbeiter im „Ministerium für Wahrheit“ an der Reihe. Winston Smith, die Hauptfigur des Romans, ist einer von ihnen. Sie haben die Pflicht, alle anders lautenden Veröffentlichungen und Zeitungsberichte der Vergangenheit zu vernichten und passend neu zu schreiben.
Mit Jesus von Nazaret, der von sich sagt „Ich bin die Wahrheit“ und der seinen Jüngern im Evangelium dieses Sonntags den „Geist der Wahrheit“ zuspricht, ist eine solche Verbiegung der Wahrheit nicht zu machen.
Die Wahrheit, für die er steht, ist keine Frage des politischen Kalküls oder der gerade vorherrschenden Doktrin. Jesu Wahrheit bleibt – das ist sein Evangelium. Für das Pontifikat von Johannes Paul II. wurde es ja oft als Stärke benannt, dass die Menschen gespürt haben: Dieser Papst redet den Mächtigen der Welt nicht nach dem Mund. Als Bote des Evangeliums hat er immer die Ungerechtigkeit beim Namen genannt, egal von welchem politischen System der Welt sie ausging.
Die Wahrheit unseres Glaubens ist mehr als eine starre Ansammlung von Lehrsätzen, die unveränderlich weiter zu geben und auswendig zu lernen ist. Nicht umsonst verspricht Jesus den „Geist der Wahrheit“ – da wird es lebendig und da ist jeder einzelne gefragt, diese Wahrheit für sein Leben persönlich zu erschließen.
Wahrheit ist nicht nur einfach das, was sein soll, sondern auch das, was im Leben Realität ist oder war. Das ist die Wahrheit der Fakten. Ein aktuelles Beispiel: In unserem Bistum war über viele Jahre der Predigtdienst von Laientheologen – Frauen und Männern – in der Eucharistiefeier in vielen Pfarrgemeinden gängige und von den Gläubigen geschätzte Praxis; dabei wurde nicht das Grundanliegen kirchenamtlicher Vorgaben missachtet, dass vorrangig dem Priester dieser Verkündigungsauftrag obliegt. Diese faktische Wahrheit bleibt und darf hoffentlich auch jetzt in der Diskussion offen benannt werden, nachdem kürzlich eine andere Praxis eingeschärft wurde.
Jesu lebendigen „Geist der Wahrheit“ brauchen wir alle – für unser persönliches Leben, für unser Leben in Beziehungen, in unserer Welt und in unserer Kirche.
Der „Geist der Wahrheit“ soll uns überall leiten, dass wir nicht der Versuchung erliegen, die Mark Twain einmal ironisch formuliert hat: „Die Wahrheit ist das Kostbarste, was wir haben. Gehen wir sparsam damit um!“
Der Autor ist Pastoralreferent. Er arbeitet als Pfarrbeauftragter in Hösbach-Bahnhof und in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung in Aschaffenburg.