Der Weg vor die Eingangstore des Mont-Saint-Michel führt über eine mehrere hundert Meter lange Brücke. Die kann der Besucher zu Fuß, mit dem Bus oder in der Pferdekutsche überqueren. Cesar heißt eines der zwei Pferde, die an diesem Herbsttag die Kutsche ziehen. Es ist ein Percheron, ein für die Region typisches Kaltblutpferd. Gemächlichen Schritts, und ein Stück weit im flotteren Trab, fahren die Touristen dem beeindruckenden mittelalterlichen Bauwerk in der Ferne entgegen.
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Auf dem gut zweieinhalb Kilometer langen Weg vom Besucherparkplatz mit dem Touristeninformationszentrum zum Mont-Saint-Michel erklärt die Kutscherin, dass die Wasserhöhe vom Gezeitenstand abhängt. Ihn reguliert – nachdem die Bucht immer stärker versandete – seit 2009 der sogenannte Gezeitendamm an der Mündung des Flusses Couesnon. Der sorgt mit dafür, dass die Abtei und der zugehörige Ort auf dem Granitfelsen im Wasser ihren Inselcharakter nicht verlieren.
Im Traum erschienen
Dann erreicht die Kutsche den Vorplatz. Die Besucher steigen aus und verschwinden durch die Eingangstore hinter den dicken Mauern. Dort verbergen sich schmale Gässchen, entlang derer sich vor allem Souvenirshops, Kioske und Restaurants aufreihen. Ein Laden verkauft Produkte aus französischen Klöstern – von Seifen bis hin zu Heiligenbildchen. Beim Schlendern durch die „Grande Rue“ (französisch: große Straße), die andernorts allenfalls als schmale Seitenstraße durchgehen würde, begegnen einem auf den engen Treppen und Wegen bisweilen Touristen mit Koffern. Es gibt Hotels, in denen sich direkt vor Ort übernachten lässt.
Blick in die Weite
Zurück geht der Mont-Saint-Michel, der mit seiner Bucht seit 1979 zum Welterbe der Unesco zählt, auf das Jahr 708. Damals soll dem heiligen Aubert, Bischof der nahegelegenen Stadt Avranches, im Traum der Erzengel Michael erschienen sein. Er habe dem Kirchenmann aufgetragen ihm zu Ehren eine Kapelle zu errichten, heißt es – daher der Name: Mont-Saint-Michel – Berg des heiligen Michael. Noch heute thront auf der Turmspitze der Abteikirche ein goldstrahlender Erzengel Michael, der, ganz der Anführer der himmlischen Heerscharen, als der er gilt, sein Schwert gen Himmel emporreckt.
Im 10. Jahrhundert ließen sich dann Benediktinermönche am Mont-Saint-Michel nieder, der schnell zu einer bedeutenden Wallfahrtstätte wurde. Sogar auf einem anderen Besuchermagneten der Normandie, dem mittelalterlichen „Teppich von Bayeux“ mit der Geschichte Willhelms des Eroberers, ist er dargestellt. Auf dem Gipfel des Felsens thront die 80 Meter lange Abteikirche aus dem 11. Jahrhundert. Vor dem Portal des romanisch-gotischen Gotteshauses staunen die Touristen angesichts des atemberaubenden Ausblicks. Aus 80 Metern Höhe blicken sie auf die Küste. Fast meint der Besucher auf der großen Westterrasse in einem Herr-der-Ringe-Film von Peter Jackson gelandet zu sein.
Die restlichen Gebäude der Abtei – deren Besichtigung anders als der weitgehend umsonst zu besuchende übrige Teil des Mont-Saint-Michel Eintritt kostet – gruppieren sich auf drei Ebenen um die Kirche. Architektonisches Prunkstück ist ein „Merveille“ (französisch: Wunder) genanntes Gebäudeensemble. Es erstreckt sich über alle drei Stockwerke und beherbergt etwa den Kreuzgang und das einstige Refektorium.
Um die immer zahlreicher strömenden Pilger zu versorgen entstand im Mittelalter bald nach der Ansiedlung der Mönche am Fuß des Felsens ein Dorf. Es gibt Gärten und sogar einen Friedhof. Derzeit hat der Mont-Saint-Michel etwa 30 Einwohner. Zudem sorgen Schwestern und Brüder der Gemeinschaften von Jerusalem wieder für die geistliche Betreuung der Pilger.
Dem Himmel nah
Wehrmauern, auf denen die Besucher heute spazieren und den Ausblick genießen, halfen im Hundertjährigen Krieg (1337–1453) der englischen Belagerung standzuhalten. Auch der heilige Michael hatte wohl seine Finger im Spiel. Später, nachdem die Benediktiner zur Zeit der Französische Revolution die Abtei verlassen hatten, diente der Mont-Saint-Michel mit seinen dicken Mauern als Gefängnis. Im Innern der Abtei lässt sich noch das Rad mit der mächtigen Kette besichtigen, an der das Essen für die Gefangenen hochgezogen wurde.
Seit 1874 ist die Abtei Baudenkmal. Seither lockt der Mont-Saint-Michel – der im Zweiten Weltkrieg zwar von den Deutschen besetzt aber von Zerstörung verschont blieb – vor allem im Sommer Heerscharen von Touristen an. Himmlisch sind über zweieinhalb Millionen Besucher pro Jahr nicht immer. Der Mont-Saint-Michel selbst ist es dafür umso mehr. Gleicht er mit seinen Mauern und der Abtei an der Spitze doch nahezu der mittelalterlichen Vorstellung vom himmlischen Jerusalem.
Anna-Lena Herbert