Evangelium
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Aposteln: Fürchtet euch nicht vor den Menschen! Denn nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt wird, und nichts ist verborgen, was nicht bekannt wird. Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet im Licht, und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet auf den Dächern! Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet euch eher vor dem, der Seele und Leib in der Hölle verderben kann! Verkauft man nicht zwei Spatzen für einen Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures Vaters. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen. Jeder, der sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem werde auch ich mich vor meinem Vater im Himmel bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel verleugnen.
Matthäus 10,26–33
Bei Gott, so die Kernbotschaft des Evangeliums, habe alles seine „Ordnung“ und seinen tieferen Sinn. Ein Satz, den ich während der Vorbereitung auf diesen Text gelesen habe. Zugegebenermaßen eine Aussage, die weder überrascht noch neu ist. Und doch ist es ein Satz, der mich jedes Mal wütend macht. Ich tue mich schwer damit, in jedem Unheil, in jeder Katastrophe einen tieferen oder gar göttlichen Sinn zu sehen. Der Krieg in der Ukraine oder in anderen Ländern dieser Welt; die Umweltkatastrophen, die menschliche Existenzen oder gar Leben zerstören; die Opfer furchtbarer Gewalt, die ihr Leben lang die Folgen davontragen müssen; die Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Unfall viel zu früh aus dem Leben gerissen werden. Die Vorstellung, diesen Betroffenen oder ihren Angehörigen zu sagen, „auch wenn es sich im Moment nicht so anfühlt, bei Gott hat es einen Sinn“, finde ich unerträglich.
Ich glaube nicht, dass alles bereits im Ursprung einen göttlichen Sinn hat oder gar gottgewollt ist. Ich glaube, dass es im Leben viel Dreck, Leid und Ungerechtigkeiten gibt. Das gilt es zunächst einmal nicht schönzureden, sondern auszuhalten. Gleich auf einen göttlichen Sinn zu verweisen, heißt für mich: das Leid nicht ernst nehmen, die Menschen in ihrer Not nicht ernst nehmen.
Aber ich bin ebenso überzeugt, dass Gott auch aus sinnlosem Leid noch etwas Gutes wachsen lassen kann. Menschen, die sich im Anblick von Krieg und Umweltkatastrophen gegenseitig unterstützen. Zerstrittene Familienangehörige, die durch einen tragischen Todesfall wieder zueinander finden und sich gegenseitig trösten. Auch ich habe nach einem Schicksalsschlag durchaus schon einmal gedacht: „Vielleicht sollte es doch einfach so sein.“
Gott verleiht Not und Leid nicht bereits im Ursprung einen Sinn, aber er kann aus dem Elend etwas Gutes wachsen lassen, aus der Asche neues Leben hervorbringen – davon bin ich überzeugt. Er ist bei uns und geht mit uns durch schwierige Zeiten. Er lässt uns nicht allein. Und aus diesem Grund sagt uns das Evangelium gleich dreimal: „Fürchtet euch nicht!“ Wie ein Refrain durchzieht dieser Satz den Text.
Auch die Jüngerinnen und Jünger erleben in ihrer Jesus-Nachfolge Widerstände. Ihnen und uns sagt Jesus zu: Vertraut auf die Fürsorge Gottes. Die erste Aufforderung, „Fürchtet euch nicht“, betrifft die unerschrockene Verkündigung, denn am Ende lässt sich doch nichts geheim halten. Der erste Abschnitt wendet sich somit gegen jede Geheimniskrämerei oder Esoterik.
Das zweite „Fürchtet euch nicht“ richtet Jesus an Glaubenszeugen, denen das Martyrium droht. Die Jüngerinnen und Jünger sollen nicht die Menschen fürchten. Die Gewissheit, dass Gott sich um seine Geschöpfe sorgt, soll ihnen die Furcht nehmen. Der Mensch, der Gott mehr bedeutet als der kleine Spatz, soll sich in der Gefahr nicht fürchten. Aber auch wenn der Spatz nicht ohne die Sorge des Vaters fällt, so fällt er dennoch tot zu Boden.
Ich werde Gott nie in Gänze verstehen können. Ich habe Fragen, viele Fragen. Besonders wenn ich mir das Leid und die Ungerechtigkeit in dieser Welt anschaue. Ich hoffe, eines Tages, wenn ich nicht mehr auf dieser Erde bin, werde ich Antworten bekommen. Bis dahin bleibt mir nur eins: auf die Fürsorge Gottes vertrauen. Er sagt mir: Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir!
Alexandra Thätner (alex.thaetner@ gmail.com) ist Theologin
und Journalistin beim „Hellweger Anzeiger“ (Nordrhein-Westfalen).