Die Theatergäste machen sich auf den Weg. Vom Mainfranken Theater geht es wenige Schritte zum gegenüberliegenden Kardinal-Faulhaber-Platz. Dort stand bis 1945 die Schrannenhalle, in der sich die Jüdinnen und Juden versammeln mussten, die in der ersten Würzburger Deportation vom 27. November 1941 verschleppt wurden.
Die Audiodokumentation berichtet via Player und Kopfhörer zunächst vom Schicksal der drei Jüdinnen Elfriede Baer, Frieda Reinstein und Ida Weil. Baer und Reinstein kamen 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt um. Nur Weil überlebte und beschrieb später die furchtbaren Lebensbedingungen in ihren „Erinnerungen aus Theresienstadt“ – unter anderem habe sie dort 80 Pfund abgenommen.
Dunkle Zeiten
Ein paar Meter weiter, ein anderes Schicksal. Der in Würzburg geborene Hermann Weissbart kam 1942 im Raum Lublin (Polen) um. Er war der Inhaber eines Geschäfts für Herrengarderobe, sein Laden dort, wo heute eine Kunsthandlung Grafiken und andere Werke verkauft.
Während die Teilnehmenden des Audiowalks die Aufnahme anhören, beginnt hinter ihnen in der Spiegelstraße langsam das Nachtleben. Einige Cafébesucher blicken verwundert auf die Gruppe, die akustisch gerade in sehr dunkle Zeiten abgetaucht ist. In scharfem Kontrast zum beschaulichen Abend steht denn auch der Bericht des deportierten Würzburgers Herbert Mai. In der Audiodokumentation erzählt ein Sprecher von der Bahnfahrt des Juden Richtung Osten ins Vernichtungslager. Laut Mais Erinnerungen zwang ein SS-Mann einen Juden, aus dem Zug auszusteigen und sich bei eisigen Minustemperaturen auszuziehen. Dann habe der SS-Mann sein unschuldiges Opfer mit einer Peitsche geschlagen und den Wehrlosen erschossen. Der Grund? Der Mann soll aus dem Zug nach draußen gesehen haben.
Gang durch Würzburg
Eine Straße weiter, gegenüber vom Bürgerspital, dringen Informationen über die Familie Hahn aus Würzburg über die Kopfhörer an die Ohren der Theatergäste. Gertrud und ihre Eltern Alexander und Henriette Hahn kamen am 17. Juni 1943 im Konzenztrationslager Auschwitz ums Leben. Im selben Monat sterben dort Käthe Heippert und ihr Sohn Sally – das jüngste Opfer „seines“ Transports aus Unterfranken.
Die Deportation überlebt hat hingegen Käte Friess, die später in die USA ausgewandert und 1997 in Los Angeles gestorben ist. Beim Audiowalk wird von ihrem letzten nächtlichen Gang durch die Würzburger Innenstadt berichtet: „Eine Menschenschlange von 200 Personen kroch entsetzlich langsam die Straße entlang.“
Zurück in die Gegenwart: Langsam näheren sich die Theatergäste von Stift Haug aus durch die Bahnhofstraße dem Hauptbahnhof. Dort wartet der zweite Teil des Theaterabends: die szenische Präsentation einiger Tagebucheinträge der bekannten Jüdin Anne Frank. Ort des Geschehens ist der DenkOrt Deportationen auf dem Vorplatz.
Am DenkOrt Deportationen
Und dieser Ort ist preisgekrönt: Anfang April – mit coronabedingter Verspätung – hat der DenkOrt den Kulturpreis 2021 der Bayerischen Landesstiftung erhalten, die kulturelle und soziale Projekte fördert. Nach einem Entwurf des Würzburger Architekten Matthias Braun erinnern auf Beton platzierte Koffer, Gepäckrollen und Rucksäcke aus Holz, Beton und Stein seit 2020 an die von Würzburg ausgehenden Deportationen der unterfränkischen Jüdinnen und Juden von 1941 bis 1944. Der vom gleichnamigen Würzburger Verein initiierte DenkOrt Deportationen, ist dabei kein reines Denkmal: Er soll vielmehr zur Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Unterfrankens anregen.
Genau das geschieht nun. Die Gäste des Theaterabends nehmen auf bereitgestellten Stühlen Platz. Dann tritt Schauspielerin Anouk Elias auf. Sie verkörpert das, durch ihr Tagebuch posthum berühmt gewordene, jüdische Mädchen Anne Frank. Obwohl die 24-jährige Darstellerin rund zehn Jahre älter ist als die von ihr dargestellte Anne, gelingt es ihr die Dynamik, den Witz und die geistige Beweglichkeit der jungen Tagebuchschreiberin überzeugend wiederzugeben.
Kleider und Koffer
Am Mainfranken Theater haben sie unterschiedliche Textteile – vom Beginn der Tagebucheinträge 1942 bis kurz vor der Deportation der Familie Frank 1944 – für die schauspielerische Präsentation ausgewählt. „Nein, es fehlt mir offensichtlich nichts außer der Freundin“, begründet Anne, alias Anouk Elias, dass sie ein Tagebuch führt. Ihm vertraut sie – statt einer Freundin – an, was sie bewegt.
Denn im Sommer 1942 hatte sich das Leben des jüdischen Mädchens grundlegend verändert. Weil die Bedrohung durch die NS-Verfolgung zunimmt, entschließt sich das Ehepaar Frank unterzutauchen. Bereits nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten war die jüdische Familie von Frankfurt am Main nach Amsterdam übergesiedelt. Nun versteckt sie sich dort in einem Hinterhaus – das heute Reisende aus aller Welt besichtigen.
Ausführlich beschreibt Anne, wie sie auf dem Weg in die Prinsengracht 263 so viele Kleider wie möglich übereinander anzieht. Denn Juden mit Koffern wären im Stadtbild aufgefallen. Vor dem Würzburger Hauptbahnhof überzeugt Anouk Elias durch Gestik und Mimik – inmitten der Gepäckstücke des DenkOrts Deportationen.
Das Schöne – auch im Krieg
Mit ihrer neuen Heimat im Hinterhaus ist Anne vorerst zufrieden, wie die Zuschauenden erfahren: „Ich träume hier so schön. Aber die Wirklichkeit ist, dass wir hier nicht herauskommen, bis der Krieg aus ist.“ Bald leben sieben Jüdinnen und Juden im Hinterhaus der Prinsengracht 263: die Eltern Otto und Edith, Anne und ihre Schwester Margot und die Familie van Pels – Hermann, Auguste und Peter. Schließlich kommt noch ein achter Mitbewohner hinzu: der Zahnarzt Fritz Pfeffer.
Der Zweite Weltkrieg wird im Hinterhaus bestimmendes Thema: „Der ganze Erdball führt Krieg“, bemerkt Anne, und die Schauspielerin gibt ihr einen betroffen Ausdruck. Gespannt verfolgen die Hausbewohner, wie sich der Krieg entwickelt und hoffen auf die Invasion der Alliierten. Doch trotz aller Gefahr bewahrt sich Anne Frank ihren Sinn für das Schöne. „So lange es das noch gibt, den Sonnenschein, diesen wolkenlosen, blauen Himmel, kann ich nicht traurig sein.“
„Ich will fortleben“
Und doch weiß sie, dass die unbeschwerte Jugendzeit verloren ist: „Wenn ich so über mein Leben von 1942 nachdenke, kommt es mir so unwirklich vor. Dieses Götterleben erlebte eine ganz andere Anne Frank“, schreibt sie am 7. März 1944, ein halbes Jahr vor der Entdeckung und Verhaftung ihrer Familie. Die Deportation sollte nur der Vater überleben – und das Tagebuch seiner Tochter veröffentlichen.
In ihrem Versteck dachte die junge Jüdin auch an die Zeit nach dem Tod: „Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“ Ihr Weg, um nicht „umsonst gelebt zu haben wie die meisten Menschen“: das Schreiben. Als Schauspielerin Anouk Elias am Ende der Vorstellung im Dunkel der inzwischen aufgezogenen Nacht verschwindet, spenden die Gäste herzlichen Applaus für einen eindringlichen Theaterabend. Ihr Ziel hat Anne Frank längst erreicht.
Stefan W. Römmelt
Aufführungstermine und Karteninfos gibt es auf der Homepage des Mainfranken Theaters.