Evangelium
In jener Zeit ging Jesus zum Ölberg. Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es. Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du? Mit dieser Frage wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem andern fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!
Johannes 8,1–11
Schuldig!“ Das Urteil ist schnell gesprochen. Und dann? Mir kommt die Szene aus dem Film „Die Flucht“ in den Sinn. Drei Burschen haben ihr Bataillon verloren, sagen sie. Die Flüchtlinge nehmen sie auf und geben den Halbverhungerten zu essen. Eine Streife greift sie später auf und nimmt sie mit. Sind sie desertiert? Es sind die letzten Kriegstage, der Krieg ist verloren. Doch das Urteil des kleinen Gerichts aus Soldaten fällt einstimmig: Schuldig. Es wird sogleich vollstreckt. Die drei haben keine Chance. Die Ideologie siegt.
Die Szene schockiert. Hilfe suchend blickt der Eine noch zum Kommandanten. Doch der kennt kein Erbarmen. Tausenden ist es so ergangen. Wo kämen wir hin? Dafür werden Gesetze erlassen. Sie sollen die Ordnung garantieren.
Es stimmt ja. Trotzdem überzeugt die Szene mit der Ehebrecherin, die Jesus vor der Bestrafung rettet.
Die Strafe der Steinigung, wenn zwei beim Ehebruch ertappt werden, steht tatsächlich im Ersten Testament, vgl. Dtn 22,23f. Schriftgelehrte und Pharisäer waren als zuständige Autorität ehrlich bemüht, die Überlieferungen richtig zu verstehen, auszulegen und anzuwenden. Objektiv hatten sie recht.
Genau betrachtet geht es ihnen aber gar nicht um die Frau. Sie ist für sie ein Mittel, um Jesus zu treffen. Mit seiner eigenwilligen Gesetzesauslegung, mit seinem Anspruch, den ursprünglichen Willen Gottes zu tun und zu interpretieren, ist er ihnen ein Dorn im Auge. Schon einmal hatte er einen Menschen „in die Mitte“ (der Synagoge) gestellt und an dem Mann mit der gelähmten Hand gezeigt, was der Wille Gottes ist: zu heilen – auch am Sabbat!
Genial, wie Jesus die Situation hier im Tempel von Jerusalem löst. Genial, weil auch Pharisäer und Schriftgelehrte ihr Gesicht behalten können, weil er niemanden verletzen oder brüskieren muss, und doch ein Leben gerettet wird.
Jesus sieht den Menschen, nicht den „Fall“. Die Frau steht schließlich allein „in der Mitte“: Eine Sünderin als Mittelpunkt, mitten im Tempel. Jeder könnte da stehen, denn wer ist nicht irgendwo schuldig geworden? Was würde ich erwarten, auch mit dem Blick auf mein unvollkommenes Leben? Jesus sieht sie an, sie darf und soll leben. Sie bekommt einen Neuanfang geschenkt. Die Tat war nicht richtig, das weiß die Frau, das weiß auch Jesus. Aber – sie erhält eine neue Chance. Ob sie wirklich ihr Leben ändert, erfahren wir nicht. Jesus vertraut darauf.
Schuldig! Das Urteil ist schnell gesprochen. Über wen brechen wir gerne den Stab? Was ist mit jenen, die – bleiben wir bei uns – gegen kirchliche Gesetze verstoßen, wie Fernbleiben vom Gottesdienst, Lügen, Wieder-Heirat, Abtreibung ...? Objektiv laden sie, laden wir Schuld auf uns. Aber gibt es trotzdem eine Chance?
Wie der barmherzige Vater mit seinen beiden Söhnen setzt Jesus auf die vorbehaltlose Zuwendung und Vergebung. Er hofft, dass diese Erfahrung der Frau die Kraft gibt, ein neues Leben zu beginnen. Ob sie es schafft, wird nicht erzählt.
Die vielen Formen der Sündenvergebung, die die Kirche kennt, bis hin zum Sakrament der Versöhnung, wollen im Grunde diese Zuwendung vermitteln. Werden sie so erlebt? Und ist unser Umgang miteinander davon geprägt?
Ich jedenfalls bin sehr vorsichtig geworden mit dem Urteil: Schuldig.
Der Autor ist Pfarrer von Marktheidenfeld.