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Das Leiden und Sterben Jesu
Innere Ergriffenheit packt die Zuschauer nicht erst bei der Kreuzigungsszene: „Du machst mir Angst, mein Sohn!“ sagt Maria zitternd, als sich Jesus von ihr verabschiedet und mit den Jüngern nach Jerusalem aufbricht. Es soll das letzte Mal sein, dass die Mutter ihn wohlbehalten sieht. Erst unter dem Kreuz von Golgotha treffen sie einander wieder. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ – unter diesem Motto stehen die vierten Dammbacher Passionsspiele, die in der kleinen Spessartgemeinde im Landkreis Aschaffenburg aufgeführt werden. Bis Ende Mai werden in elf Vorstellungen etwa 4000 Menschen das Leiden und Sterben Christi hautnah mitverfolgen.
Seit vielen Monaten schon steht die Ortschaft zwischen Rohrbrunn und Obernburg Kopf. Rund einhundert Frauen, Männer und Kinder haben eine Rolle im Passionsspiel, mindestens genauso viele Helfer wirken mit beim Bühnenbau, in der Technik, beim Schminken oder den Kostümen. Letztere haben Adolf Englert und seine Frau Friederike selbst genäht – aus Stoffen, die Textilhersteller ihnen spendeten. „Uns führt das alles an Grenzen“, gibt Ina Herrmann zu, die gemeinsam mit Martin Anderl die Fäden hinter den Kulissen zusammenhält.
Rückblick auf die Wochen vor der Premiere: beinahe täglich und stundenlang proben die Akteure. Wie an diesem Samstag: Zum ersten Mal wird in der Dammbachtalhalle die komplette Handlung durchgeprobt, vor fertiger Kulisse und in Kostümen. Das verlangt von allen Beteiligten Disziplin und Geduld. Beides sind Eigenschaften, die Regisseurin Waltraud Amrhein in sich vereint. Ruhig und aufmerksam sitzt die Krankenschwester auf ihrem Regiestuhl, beobachtet, unterbricht, gibt Anweisungen. Ihr zur Seite stehen Tanja Adam und Paul Kroth, der heuer erstmals den Jesus darstellt, nach drei Spielzeiten als Judas. „Die Rolle ist eine Herausforderung“, meint der gelernte Maler. Das bestätigt auch Michael Lattus, der ebenfalls den Heiland spielt. Alle Hauptrollen hat Waltraud Amrhein doppelt besetzt, um die Darsteller zu entlasten – und auf Nummer sicher zu gehen.
Michael Lattus, im normalen Leben Erzieher, stammt aus Dammbach, lebt aber mit seiner Familie in Bonn. Er kommt jedes Wochenende in die alte Heimat, für die Proben und Aufführungen. „Die Rolle hat mich in vielen Dingen verändert“, sagt Lattus. Er wolle die zutiefst menschliche Seite Jesu herausstellen und nicht den abgehobenen Heiligen spielen. Auch äußerliche Veränderungen sind den Rollen geschuldet: wie fast alle männlichen Darsteller hat sich der Erzieher seit zwei Jahren Haare und Bart wachsen lassen.
Ob sich Alfred Krott hätte träumen lassen, dass die Passionsspiele in seinem Heimatort über Jahrzehnte hinweg zum Publikumsmagneten würden? Krott hatte Ende der neunziger Jahre ein Passions-Drehbuch geschrieben, dem Pfarrgemeinderat vorgelegt – und dort Gehör gefunden. Im Jahr 2000 begannen die Proben, 2001 war Uraufführung. Alle fünf Jahre finden die Vorstellungen seitdem statt. „Für einen einfachen Mann wie mich ist das ein Traum“, sagt der gelernte Schlosser bescheiden. In den ersten drei Spielzeiten verkörperte er selbst den Christus, heuer steht der Rentner als Petrus auf der Bühne, abwechselnd mit Herbert Hirsch, dem mit 75 Jahren ältesten Schauspieler. Der jüngste Mitwirkende hat gerade das Laufen gelernt.
Am Text gefeilt hat Krott auch in der vierten Spielzeit wieder. Die biblische Evangelien-Erzählung schmückt er mit zahlreichen Szenen aus, beispielsweise mit einem Treffen von König Herodes und Pontius Pilatus. Oder dem Versuch Claudias, ihren Gatten Pilatus von der Verurteilung Jesu abzuhalten.
An die Nieren geht der Monolog des Judas (Thomas Fries), der sehr überzeugend an seinem Verrat verzweifelt. Gewissensbisse, Scham und Schuld überfallen ihn. Die Judas- und Pilatus-Rollen sind nicht eindimensional angelegt. In Krotts Version offenbaren sie die Abgründe menschlichen Handelns, lassen den Zuschauer fragen: Wie hätte ich mich in dieser Situation verhalten? Erstmals tritt heuer auch der Tenor Daniel Barthel auf. Seine Lieder verstärken die beklemmende Atmosphäre von Geißelung und Kreuzabnahme.
Auch wenn Dammbach nicht Oberammergau ist: Dem Ensemble gelingt es auf seine ganz eigene Art, die biblischen Worte bildhaft lebendig werden zu lassen, so dass sie sich den zuschauenden Menschen tief ins Innere eingraben. Allerdings verlangen elf Spielabschnitte und knappe vier Stunden Gesamtdauer auch von den Besuchern Ausdauer und Aufmerksamkeit.
Während der Proben sind die Akteure bestens versorgt. Selbstgebackene Kuchen, belegte Brötchen, Kaffee und kalte Getränke haben fleißige Helfer vorbereitet. Vor der Halle laufen Schauspieler auf und ab, deklamieren ihre Texte. Kinder lesen und drücken auf ihren Smartphones, ein Mädchen hat ihr Häkelzeug ausgepackt. Es geht entspannt zu in der Dammbachtalhalle, die erstmals auch für die Aufführungen klimatisiert wird. Viele Familien sind ehrenamtlich beteiligt, vom Kleinkind bis zum Großvater.
Bei den Aufführungen übernehmen die Ortsvereine die Bewirtung, die Feuerwehr hilft beim Umbau. Die Passionsspiele, so erzählt Ina Herrmann, hätten in der Gemeinde zu besserem Zusammenhalt geführt. Die ehemals „zwangsverheirateten“ Ortsteile Wintersbach und Krausenbach seien enger zusammengewachsen. Nicht nur die Dammbacher profitieren: Der Erlös aus den Vorstellungen kommt verschiedenen sozialen Projekten in der Region zugute.