Frau Professorin Dr. Becka, wie kann Kirche politisch agieren, ohne konkret für eine politische Partei einzutreten?
Sie sollte auf der Grundlage ihrer Überzeugungen und Werte Stellung beziehen zu gesellschaftlichen Fragen – besonders dann, wenn Würde und Rechte von Menschen verletzt werden, vor allem jener am Rand der Gesellschaft. Es ist nötig, sich klar zu positionieren. Aber Kirche kann auch dazu beitragen, Polarisierung zu verringern. Etwa indem sie zum Hinterfragen allzu lauter Meinungen anregt und vor allem indem sie Begegnungsräume eröffnet. In Gemeinden und Verbänden kommen sehr unterschiedliche Menschen zusammen. Könnten nicht gerade wir Christinnen und Christen ein Beispiel dafür sein, dass man trotz unterschiedlicher Meinungen und parteipolitischer Sympathien respektvoll und sachlich miteinander spricht?
Auf welcher Grundlage sollten Christen ihre Wahlentscheidung treffen?
Letztlich ist jede und jeder dem eigenen Gewissen verpflichtet. Das bedeutet aber nicht Beliebigkeit, sondern Verantwortung. Eine Partei ist nur wählbar, wenn sie mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar ist. Die Frage ist: Traue ich einer Partei zu, sich von Werten leiten zu lassen, die mir als Christin wichtig sind, von der Achtung der Menschenwürde aller, Respekt, einem Verständnis von Freiheit, das mit Gemeinwohlgedanken vereinbar ist, oder dem Erhalt der Schöpfung? Die einzelnen Aspekte kann man unterschiedlich gewichten, daher wählen Christen unterschiedliche Parteien. Das ist gut so – solange die Grundwerte der Verfassung geachtet werden. Denn Wohlergehen und Freiheit, die auf der Abwertung anderer oder gar auf Hass aufbauen, sind nicht mit christlichen Überzeugungen vereinbar.
Orientieren sich Wähler bei ihrer Wahlentscheidung nicht generell eher am eigenen Nutzen als am Gemeinwohl?
Das ist teilweise so und muss nicht schlecht sein. Aber was heißt eigener Nutzen? Es wäre schon manches gewonnen, wenn man im langfristigen Eigeninteresse denken würde. Denn das langfristige Wohlergehen benötigt anderes als der kurzfristige vermeintliche Nutzen. Hinzu kommt, dass wir nicht allein auf der Welt sind. Reiner Egoismus führt zum permanenten Kampf aller gegen alle. Schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse macht daher Kooperation Sinn. Außerdem lässt sich gemeinsam mehr erreichen als allein. Das Denken des „Ich zuerst“ zerstört den sozialen Zusammenhalt und macht am Ende einsam – und nicht glücklich. Und auf Ebene der Staaten sollten wir alles daran setzen, nicht der We-first-Strategie zu folgen, sondern die europäische Idee und den Zusammenhalt der EU mehr denn je zu stärken. Die internationale Ordnung ist nicht perfekt. Aber sie ist zu verteidigen und zu verbessern – und nicht zu ersetzen durch eine Ordnung, in der allein die Macht des Stärkeren zählt.
Ist außerparlamentarischer Widerstand gerechtfertigt, etwa Blockaden, Farbattacken, Besetzungen?
Es kommt darauf an. Es gibt ein Grundrecht auf außerparlamentarischen Widerstand, zum Beispiel Demonstrationen. Das ermöglicht Partizipation und trägt zur politischen Willensbildung bei. Aber natürlich kann man darüber streiten, welche Formen legitim sind und welche nicht. Ein zentrales Bewertungskriterium wäre für mich die Gewaltfreiheit.
Die Bischöfe warnen vor extremistischem Denken, doch die Zustimmung zu extremistischen Parteien legt zu. Hat das Votum der Bischöfe keine Relevanz mehr?
Doch. Aber erstens ist die Stimme der Bischöfe in der pluralen Gesellschaft eine unter vielen – wenn auch eine wichtige. Zweitens ändert eine solche Erklärung allein nicht die Gesinnung von Menschen, auch nicht von Katholiken. Dass extremistische Parteien für viele Menschen attraktiv sind – auch für Christen –, ist ein großes Problem. Einerseits müssen wir einander zuhören und dadurch verstehen, warum Menschen unzufrieden sind. Andererseits ist zu verdeutlichen, dass Hass keine Probleme löst; dass Menschlichkeit nicht vergessen werden darf; dass Meinung nicht Fakten ersetzt; dass Versprechen einfacher Lösungen in unserer komplexen Gesellschaft nicht funktionieren. Und manchmal muss man klare Kante zeigen.
Extremisten kritisieren die Demokratie als zu zaghaft. Steht sich die menschenfreundliche Demokratie also selbst im Weg?
Das ist ein gefährliches Argument. Natürlich kann eine Entscheidungsfindung in der Gruppe umständlicher sein, als wenn ich allein entscheide. Das heißt aber nicht, dass die allein getroffene Entscheidung besser ist. Aber vor allem: Die Grundidee der Demokratie ist, dass die Bürger – als Souverän – über die eigenen Belange gemeinsam entscheiden. Bestimmte Verfahren stellen sicher, dass das fair geschieht und Macht kontrolliert wird. Das funktioniert nicht perfekt, Demokratie ist stets verbesserungswürdig. Aber zu sagen, das sei alles zu umständlich und deshalb unnötig, führt zu einem Autoritarismus. Das hinzunehmen in der Annahme, jene Regierung würde in meinem Interesse handeln, ist naiv. Und letztlich stabilisiert sich ein solches System durch Gewalt.
Wieso dürfen antidemokratische Parteien überhaupt zu Wahlen antreten?
Das ist eine heikle Frage. Inhaltlich ist das Kriterium, ob eine Partei als demokratisch gelten kann, die Verfassungskonformität. Die AfD gilt mittlerweile als in Teilen „gesichert rechtsextrem“, so dass man sagen kann, sie steht nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Allerdings ist das zunächst eine Feststellung des Verfassungsschutzes. Diese hat keine unmittelbaren Auswirkungen darauf, ob die Partei zur Wahl antreten darf. Um das zu verhindern, müsste man sie verbieten. Das ist eine politische Entscheidung – und die wird bekanntlich derzeit heftig diskutiert. Es gibt gute Gründe, ein Parteiverbot beim Bundesverfassungsgericht zu beantragen. Dass man dennoch davor zurückscheut, liegt daran, dass die – vielen! – Anhänger der Partei sich dann bestätigt sehen könnten. Sie würden argumentieren, dass ihre Interessen nicht gesehen werden, und würden sich noch weiter vom demokratischen System entfernen.
Was tun angesichts zunehmender Anfeindungen gegen politisch Engagierte?
Respekt und Solidarität. Wir sollten viel öfter betonen, wie wichtig das politische Engagement in demokratischen Parteien ist und den Personen Dank und Respekt zeigen. Und es ist unbedingt nötig, sich über Parteigrenzen hinweg solidarisch zu zeigen. Jeder Angriff missachtet die Person und zugleich das politische System. Das geht alle an.
Jerzy Staus
Dr. Michelle Becka, Jahrgang 1972, ist seit 2016 Professorin für Christliche Sozialethik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Zudem ist sie Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik. Politische Ethik ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte.