Evangelium
In jener Zeit sah Jesus einen Mann namens Matthäus am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Und Matthäus stand auf und folgte ihm nach. Und als Jesus in seinem Haus bei Tisch war, siehe, viele Zöllner und Sünder kamen und aßen zusammen mit ihm und seinen Jüngern. Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen? Er hörte es und sagte: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Geht und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer! Denn ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder.
Matthäus 9,9–13
Ach ja, die Pharisäer schon wieder. Wie gerne zeigen wir mit dem Finger auf sie. Die haben aber auch gar nichts begriffen. Überkorrekte Gelehrte, die ohne zu hinterfragen stumpf das Gesetz befolgen und dabei die Menschen aus dem Blick verlieren. Wie gut, dass wir es besser wissen. Wir haben erkannt, dass Jesus für die Armen und Ausgestoßenen gekommen ist. Dass er an den Rand der Gesellschaft geht. Und dass auch wir uns um diese Menschen sorgen sollen. Was soll mir dieses Evangelium schon noch neues sagen?
Aber ist es wirklich so einfach? Sind nicht auch wir als Volk Gottes, als Kirche, aber auch als Einzelne nur zu oft in der Rolle der Pharisäer? Wir wissen genau, was Sünde, wer Sünder oder Sünderin ist. Wir wissen genau, wie Gott tickt, wen er segnet und vor allem, wen er nicht segnet. Menschen in homosexuellen Beziehungen, wiederverheiratet Geschiedene – sie entsprechen nicht den religiösen Gesetzen (so glauben einige von uns), sind ausgeschlossen von den Sakramenten, vom kirchlichen Leben, Ausgestoßene. Doch Jesus durchbricht die Regeln einer standardisierten „Frömmigkeit“ und deckt ihre Verlogenheit auf. Seine immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit den Pharisäern hat grundsätzliche Bedeutung. Sie ist keineswegs nur ein historisches Problem. Sie macht auf eine Gefahr aufmerksam, der religiöses Tun und Denken immer wieder ausgeliefert sind – auch christliches Denken. Die Fassung religiösen Verhaltens in Vorschriften verschafft Sicherheit und dem, der sie befolgt, das Gefühl, ein religiöser Mensch zu sein.
Aber religiöse Vorschriften können sich verselbstständigen und nur noch dem Selbstzweck, nicht mehr den Menschen dienen. Der Evangelist betont – völlig im Sinn Jesu – die Einheit und Untrennbarkeit von Gottes- und Nächstenliebe. Natürlich sind beide nicht identisch. Beide haben ihr Eigengewicht. Aber im Abwenden vom Mitmenschen kann der Gottesdienst zu einem vermeintlichen, sogar verlogenen Gottesdienst werden und sich gegen den Mitmenschen richten.
Der religiöse Mensch muss sich befreien von Gesetzen, die einengen statt zu befreien. Die Bibel zeigt uns einen Gott der Liebe und Gerechtigkeit. Die Erfüllung von Gesetz und Propheten ist dann gegeben, wenn diese auf das Wohl der Menschen und ihre Beziehung zu Gott abzielt.
Jesus kam nicht für die Selbstgerechten, die sich für heilig, untadelig und gottergeben halten. Nein, er kam für diejenigen, die wissen, dass sie Sünder sind und die seine Barmherzigkeit und Vergebung brauchen und suchen – und er sah in ihnen mehr als den Sünder.
Das Evangelium erinnert uns daran, dass es keine Grenzen für die Gnade Gottes gibt. Es spielt keine Rolle, was wir in der Vergangenheit getan haben und wie tief wir gefallen sind. Gott ist bereit, uns anzunehmen, zu vergeben und uns eine neue Chance zu geben. Und so wie Gott sollen auch wir uns nicht gegenseitig richten und ausschließen.
Die Menschen der damaligen Zeit betrachteten die Zöllner als Sünder und Ausgestoßene, die mit den römischen Besatzern kollaborierten und ihr Volk ausnutzten. Doch Jesus sah in Matthäus mehr als das. Er sah das Herz des Matthäus und erkannte sein Potential, ein Jünger zu sein. Auch wir sollten das nächste Mal kurz innehalten, bevor wir jemanden verurteilen wollen, jemandem die Rechtgläubigkeit absprechen wollen. Vielleicht stehe ich in dem Moment auf der Seite der Pharisäer und der Verurteilte ist derjenige, der ohne zu zögern aufsteht und Jesus nachfolgt.
Alexandra Thätner (alex.thaetner@gmail.com) ist Theologin
und Journalistin beim „Hellweger Anzeiger“ (Nordrhein-Westfalen).